Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
Vermutlich verstand sie kein Wort von dem, was Rowena erklärte. Sie konnte weder mit den Kraftlinien der Erde noch mit Energieströmen, die man bündeln musste, etwas anfangen. Mervyn und Ivy dagegen hatten damit natürlich überhaupt kein Problem. Sie würden es sicher am schnellsten lernen, wobei es schon ein Unterschied war, ob man sich in ein Tier verwandeln wollte, auf dessen Erscheinung man sich konzentrieren konnte, oder in eine formlose, neblige Masse.
Es war schwer! Oder Rowena gelang es nicht recht, zu erklären, worauf es ankam. Jedenfalls konnte Luciano bei keinem von ihnen auch nur einen Ansatz von Erfolg erkennen. Nicht einmal bei Ivy. Oder hielt sie sich absichtlich zurück? Das war durchaus möglich, argwöhnte Luciano. Sein Vertrauen in die Fähigkeiten der Lycana war nahezu grenzenlos.
Sie übten noch nicht sehr lange, als sie Gesellschaft bekamen. Es war Lady Margaret, die nachsehen wollte, wie sie vorankamen.
» Nicht gut«, gab Rowana mit einem schiefen Lächeln zu. » Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich kann es einfach. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, wie es funktioniert. Ich finde keine Worte dafür, wie es sich anfühlen muss, oder ich weiß nicht, ob die anderen das Gleiche darunter verstehen, was ich meine.«
Lady Margaret nickte. » Ja, es ist nicht einfach, Dinge, die für uns selbstverständlich sind, zu erklären und weiterzugeben. Aber vielleicht kann ich ein wenig helfen. Wenn Worte nicht genau genug sind, müssen wir andere Wege finden, uns mitzuteilen. Die Vyrad trat näher. Ohne auch nur ihren Schritt zu verlangsamen, ging sie auf das verschlossene Gitter zu und durch es hindurch. Die Eisenstäbe glitten durch ihren Körper. Die Lady löste sich eigentlich nicht richtig in Nebel auf, wie die Erben es bei Rowena gesehen hatten. Ihre Konturen wurden für den Moment, da sie das Hindernis überwand, lediglich ein wenig verschwommen, die Farben ihres Kleides blasser. Es war schon eine beeindruckende Vorstellung. Luciano konnte sich nicht zurückhalten, er klatschte begeistert. Die Lady bedankte sich.
» Das ist eine fortgeschrittene Weise, Hindernisse aller Art zu überwinden. Ihr werdet es vorerst ein wenig anders machen. Ihr löst euch zuerst vollständig in Nebel auf und zieht dann langsam durch einen Spalt oder ein Loch. Erst wenn ihr die andere Seite vollständig erreicht habt, zieht ihr den Nebel wieder zu eurer Gestalt zusammen. Das ist einfacher, in manchen Situationen aber auch nicht ungefährlich. Hütet euch vor dem Wind! Gerade durch enge Ritzen und schmale Tunnel zieht es oft beträchtlich!«
Mervyn riss die Augen auf. » Was passiert mit uns, wenn wir uns bereits aufgelöst haben und der Nebel vom Wind verweht wird?«
» In harmlosen Fällen gelangt ihr einfach nicht auf die andere Seite, weil der Luftzug euch zurücktreibt. Im schlimmsten Fall reicht eure Kraft nicht aus, euch wieder zusammenzuziehen und eure Gestalt zurückzugewinnen. Also Vorsicht! Löst euch niemals leichtfertig auf, ohne die Stärke des Windes überprüft zu haben.«
Die Erben nickten ernst ob der Warnung, nur Clarissa wich mit entsetzter Miene zurück. » Ich weiß nicht, ob ich das lernen will«, rief sie.
Luciano wollte ihre Ängste beschwichtigen, doch Lady Margaret fiel ihm ins Wort.
» Das wirst du auch nicht. Der Unterricht ist für die Erben, nicht für ihre Servienten!« Sie verlangte von Rowena den Schlüssel, entriegelte das Gitter und forderte Clarissa auf, hindurchzutreten.
» Du kannst hier draußen warten.«
Obwohl diese Übung Clarissa geängstigt hatte, war ihr diese Entscheidung auch nicht recht. Ihre Gefühle standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie die Gittertür passierte, doch Lady Margaret kümmerte das nicht. Ivy schloss sich Clarissa an.
» Das gilt dann wohl auch für mich«, sagte sie und warf der Vyrad einen provozierenden Blick zu. Die Lady hob die Brauen.
» Ja, so ist es«, erwiderte sie lediglich, verschloss das Gitter wieder und händigte Rowena den Schlüssel aus. Der Wolf und die beiden Vampirinnen sahen von der anderen Seite zu, wie die Lady Franz Leopolds Hände in die ihren nahm.
» Fangen wir mit dir an. Es dürfte dir nicht schwerfallen, deine Gedanken mit den meinen zu verbinden und dich von den Strömen meines Geistes leiten zu lassen. Du darfst nicht gegen den Schmerz ankämpfen, der zu Anfang die Auflösung deines Körpers begleitet.«
Franz Leopold nickte nur stumm. Auf seiner Stirn erschienen zwei Falten.
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