Die Erben der Schöpfung
auf die andere Seite der Hütte, setzte sich auf den Fußboden und stützte die Ellbogen auf die Knie.
Lautlos kehrte Paulo mit zwei Blechtassen zurück, von denen er ihr eine reichte, ehe er sich in der Mitte des Raums gegenüber von Jamie niederließ. Schweigend nippte er an seinem Getränk und sah sie an. »Was ist denn los, Jamie?«, fragte er schließlich. »Darf ich jetzt endlich erfahren, warum du schon seit Wochen so abwesend bist?«
»Ist es dir also aufgefallen.«
»Schreib es meiner subtilen Beobachtungsgabe zu. Es ist ja nicht gerade typisch für dich, dass du nach dem Frühstück stundenlang dasitzt und Krakel auf eine Serviette malst.« Er lächelte entwaffnend. Obwohl er von hochgewachsener Statur war, hatte Paulo überhaupt nichts Einschüchterndes an sich. Selbst auf Fremde wirkte er wie ein großer Bruder, jemand, bei dem man sich sicher und geborgen wähnte. Er war der Typ Mensch, von dem man sich in einem Gespräch von Grund auf verstanden fühlte, jedoch merkte man erst hinterher, dass man nicht das Geringste darüber erfahren hatte, was er selbst fühlte, glaubte oder mochte.
Was für Jamie vielleicht das größte Rätsel an Paulo darstellte, war die ständige Ungewissheit, ob er nun einfach bemerkenswert rechtschaffen und unkompliziert oder vielmehr extrem abgründig und undurchschaubar war. Allerdings bestand für die meisten Menschen kein Zweifel daran, dass er einer der attraktivsten Männer war, die sie je gesehen hatten, und es unmöglich war, seine riesigen Augen zu vergessen, wenn er einen einmal intensiv angesehen hatte.
»Irgendwie ist es mit meiner Arbeit nicht gut gelaufen. Ich werde aus den ganzen Daten nicht richtig schlau. Früher habe ich immer gedacht, wenn ich erst die Zahlen habe, kommen die Antworten ganz von selbst…«
»Du stehst doch noch am Anfang. Bestimmt siehst du es bald klarer.«
Sie schluckte. »Ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll, Paulo, aber ich gehe für eine Weile fort, vielleicht auch für immer.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
Sie schüttelte den Kopf. War er enttäuscht oder lediglich überrascht? »Ich habe mich in der Anlage umgesehen, die du erwähnt hast – zwischen dem Rio Vicioso und dem Amazonas.«
Paulo wirkte ehrlich erstaunt. »Tatsächlich? Und was hast du entdeckt?«
»Es ist ein Forschungslabor. Sie machen Stammzellenforschung.«
»Interessant. Und warum so geheimnisvoll? Hast du mit jemandem dort gesprochen?«
Was sollte sie sagen? Sie hatte ja versprochen, es für sich zu behalten. »Ich kenne noch nicht alle Einzelheiten. Vermutlich arbeiten alle großen Labors so.« Paulos Miene vermittelte nur allzu deutlich, dass er wusste, dass das noch nicht alles war. Jamie fuhr fort. »Ich habe mit dem Forschungsleiter dort gesprochen. Er heißt Nakamura. Offenbar wusste er schon, wer ich bin, und hat mir einen Job angeboten. Ich soll eine Primatenpopulation untersuchen, an der sie gerade arbeiten.«
»Im Ernst?«
Also war er enttäuscht.
»Ich gehe morgen noch mal hin, um mich über das Projekt zu orientieren. Anscheinend wollen sie jemanden, der untersucht, wie sich die Einführung einer neuen Spezies in den Regenwald auf die Umwelt auswirkt.«
»Das willst du machen? Und deine eigene Forschung?«
Jamie sah ihm fragend und sehnsüchtig in die Augen und nickte. »Das kann warten. Ich muss erst mal hier raus. Das Projekt ist nicht richtig vorangekommen.«
Paulos Blick war hypnotisch. Die zwei Meter zwischen ihnen wirkten wie zehn Zentimeter. Eine Weile sagte keiner etwas. Dann nippte Paulo an seinem Kaffee und sah sie an. »Erzähl mir etwas über ihr Projekt.«
»Es ist toll. Aber ich habe mich vertraglich verpflichtet, noch nichts darüber zu verraten. Allerdings…« Sollte sie es ihm trotzdem sagen?
»Allerdings was?«
»Ich bringe es irgendwie nicht über mich, von hier wegzugehen. Das alles ist mir so ans Herz gewachsen.«
»Was meinst du, was dir fehlen wird?«
Sie wandte den Blick ab. »Das Camp vermutlich. Mein Baumhaus. Deine Geschichten beim Essen…«
»Jamie, ich weiß nicht, ob dieser Job das Richtige für dich ist, aber wenn du ihn annimmst, sollst du wissen, dass du hier jederzeit willkommen bist.« Er hielt kurz inne. »Du wirst uns fehlen. Du wirst mir fehlen.« Die Wärme in seiner Stimme machte die Verwirrung in Jamies Kopf noch schlimmer. Nachdem sie monatelang von Gesprächen wie diesem geträumt hatte, konnte sie kaum glauben, dass es nun tatsächlich stattfand. Und dass es zu spät war.
»Was
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