Die Erben der Schöpfung
hält dich hier?«
»Ich habe die letzten fünfzehn Jahre wesentlich mehr Zeit im Dschungel verbracht als außerhalb. Das hier ist mein Zuhause. Was will ich denn mehr, als mich dort aufzuhalten, wo ich gern bin und interessante Menschen um mich habe… Das Leben im Dschungel hat etwas sehr Spirituelles, weißt du.«
»Ja, das weiß ich.« Sie stand auf und machte ein paar Schritte auf das dunkle Fenster zu. »Manchmal frage ich mich, was ich wirklich vom Leben will. Ich liebe meine Arbeit, aber es ist ein so einsamer Job. Du scheinst immer genau zu wissen, was du willst.«
Er erhob sich, trat neben sie ans Fenster und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich will alles, Jamie.« Er sah sie an und streichelte ihr einmal über die Wange. Sein Blick war freundlich. Oder sehnsüchtig?
Jamie wandte sich zu ihm um, ihr Mund nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Seine Anziehungskraft wurde immer stärker. Sie rückte näher an seinen Körper und konnte nichts mehr denken, weil ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie schloss die Augen.
Paulo ließ den Arm von Jamies Schulter gleiten. »Jamie?«, flüsterte er. »Weißt du, was das Beste daran ist, im Regenwald zu sein?« Abrupt riss sie die Augen auf. »Gott ist hier – er ist nirgends mehr als hier.«
Jamie runzelte die Stirn über diese Aussage. »Was meinst du damit?« Sie war so verkrampft, dass sie die Frage beinahe flüsterte.
»Jeden Tag beim Aufwachen habe ich das Gefühl, dass der Wald mich mit Licht übergießt. Jeden Tag versucht mir jemand eine Botschaft zu senden, mir zu sagen, dass hier irgendwo ganz nah, die Antwort auf das Leben zu finden ist. Es ist, als würde hier etwas geschehen, das alles andere im Leben banal werden lässt – etwas Ursprüngliches, etwas Schönes, etwas Überirdisches.«
»Das habe ich auch gespürt, nur würde ich es nicht Gott nennen.«
»Glaubst du, dass hier das Leben begonnen hat? Dass die Menschheit hier begonnen hat?«
»Im Regenwald?«
Er nickte.
Jamie überlegte kurz. »Ja, bestimmt, oder an einem ähnlichen Ort.«
Paulo sah ihr erneut aufmerksam ins Gesicht. »Ich hoffe, du bleibst, Jamie, aber wenn du doch gehst, hoffe ich, dass du den Wald nicht vergisst – in seiner ganzen Fülle.«
Sie sah erst aus dem Fenster und dann zu ihm. Mit ihrem Atem auf seinem Gesicht begann sie zu sprechen. »Danke. Ich sage dir morgen Bescheid, was ich mache.« Einen Moment lang standen sie noch so dicht nebeneinander, dass sich ihre Arme berührten, doch dann wandte sie sich langsam zum Gehen, da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.
»Jamie«, rief er ihr nach. Sie blieb stehen. »Bitte sei vorsichtig und komm zurück.«
»Gute Nacht«, sagte sie und ging leise hinaus in die Nacht. Sie tat ein paar Schritte, lehnte sich gegen einen von mehreren umstehenden Bäumen und biss sich auf die Unterlippe. Dann fing sie an zu weinen.
6
Am nächsten Tag wurde Jamie wie vereinbart kurz nach Sonnenaufgang am Amazonasufer abgeholt. Er lag zwar acht Kilometer weiter weg als der Rio Vicioso, seine breiten, ruhigen Fluten waren aber bedeutend besser schiffbar als der schnell fließende Vicioso, und so bestieg Jamie das Boot am Anfang des gut markierten Pfads zur Forschungsstation, wo es sie schon einmal abgesetzt hatte.
Etwa eine Stunde lang fuhr das Boot ungestört flussabwärts, ehe es in einer kleinen Bucht anlegte, an die sich eine große, asphaltierte Straße anschloss. Ein Jeep erwartete sie. Wenige Minuten später fuhren sie durch den dichten Dschungel, bis sie auf die Lichtung kamen, wo urplötzlich die Laboranlage vor ihnen auftauchte. Nach der Ankunft wurde Jamie in einen nichtssagenden Besprechungsraum geführt.
Dort warteten bereits drei Personen. Kenji Nakamura sah mehr oder weniger genauso aus wie bei ihrer letzten Begegnung. Dazu kamen ein Mann mittleren Alters in einem karierten Hemd und schicken Shorts mit einem geflochtenen Gürtel sowie ein junger Mann in kurzen Khakihosen, einem blauen Freizeithemd und Turnschuhen.
Der junge Mann, der eindeutig indischer oder pakistanischer Abstammung war, musterte Jamie aus dicken Brillengläsern, die seine riesigen Augen etwas verkleinerten. Sein Oberlippenbart war dünn, als hätte er ihn irgendwann in den letzten zwei Wochen abrasiert. Auf seinem ansonsten sehr gebildet wirkenden Gesicht zeichnete sich unverkennbare Euphorie ab. Ehe Nakamura sich höflich erheben konnte, um alle miteinander bekannt zu machen, war der dritte Mann bereits aufgesprungen und
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