Die Erben der Schwarzen Flagge
Elena plötzlich und schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
»Ihr kennt den Monsieur?«, fragte Bricassart, der mit ihr an der Reling stand.
Elena war unfähig zu antworten. Sie nickte nur, während sie wie gebannt auf das grausam zur Schau gestellte Haupt blickte, das seine Augen bereits eingebüßt hatte und aus leeren Höhlen zu ihr herüberstarrte. Sie hatte Almaro nicht sehr gut gekannt, aber es war noch nicht lange her, da war der Capitán zu Gast bei ihrem Vater gewesen. Sie hatten einander flüchtig begrüßt, und er hatte Komplimente über ihre Schönheit gemacht, hatte von seiner eigenen Tochter zu Hause in Spanien berichtet, die nur wenig jünger war als Elena … Nun hatte er ein so würdeloses Ende gefunden.
»Ich erinnere mich ebenfalls an ihn«, sagte Bricassart schulterzuckend. »Er war ein Feigling. Er hat sich mir ergeben, anstatt zu kämpfen, wie es sich für einen Mann von Ehre gehört hätte.«
»Und Ihr habt ihn getötet«, flüsterte Elena.
» Bien sûr. Ihr müsst wissen, Doña Elena, dies hier ist la galerie des lâches – die Galerie der Feiglinge. Wer Damian Bricassarteinen guten Kampf liefert, der wird auf See bestattet, wie es sich für einen anständigen Seemann gehört. Wer jedoch die Waffen streckt in der Hoffnung auf Gnade, der endet hier.«
»Ich verstehe«, sagte Elena tonlos. »Gnade wird nicht gewährt, richtig?«
»So ist es. Es ist ein Krieg, in dem wir kämpfen, Doña Elena. Wenn wir gefangen werden, haben wir ebenfalls keine Gnade zu erwarten, das wisst Ihr genau.«
Elena starrte den Piratenkapitän durchdringend an. Ihre Züge waren blass geworden, mit dunklen Schatten um die Augen und gelben Stellen um den Mund. Es war ihr anzusehen, wie ihr Magen rebellierte, aber sie gab sich Mühe, ihre Würde zu bewahren.
»Und Ihr wollt ein Ehrenmann sein, Bricassart?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Bemüht Euch nicht. Ihr seid nichts weiter als ein grausamer Schlächter. Niemals werde ich in Euch etwas anderes sehen.«
»Warten wir es ab, meine Teure. Ihr werdet meine Vorzüge noch schätzen lernen, das versichere ich Euch.«
Ein Lächeln glitt um die Züge des jungen Kapitäns, das Elena nicht gefallen wollte. Eine düstere Ahnung befiel sie, dass ihre Qual mit der Befreiung aus Nick Flanagans Gefangenschaft nicht geendet, sondern in Wirklichkeit erst begonnen hatte.
Am Pier wartete bereits eine Kutsche – ein Vierspänner, der das Wappen eines britischen Adligen trug und wohl ebenfalls aus Prisengut stammte. Kaum waren sie an Land gegangen, forderte Bricassart Elena auf, darin Platz zu nehmen, und durch die engen Straßen ging es hinauf zur Festung, die ähnlich wie in Maracaibo den Hafen weithin sichtbar überragte. Mit dem Unterschied, dass die Zitadelle von Port Royal ungleich größer und trutziger war. Und dass nicht das Banner Spaniens, sondern die Totenkopfflagge über dem höchsten Turm wehte.
»Willkommen in Port Royal«, meinte Bricassart mit höhnischem Lachen, als sie sich dem großen Tor näherten und Elena die grässliche Staffage auf den Festungsmauern erblickte, die aus halb verwesten Leichen bestand. Die Piraten schienen keine Grausamkeit auszulassen. Elena empfand tiefste Abscheu vor ihrem Befreier, und einmal mehr konnte sie nicht glauben, dass ihr Vater mit diesen Leuten gemeinsame Sache gemacht haben sollte.
Aber selbst diese Schrecken konnten die Grafentochter nicht auf das vorbereiten, was sie im Inneren des alten Gouverneurspalasts erwartete. Der scheußliche Gestank von Fäulnis und Verwesung, der ihr schon auf den Stufen entgegenschlug, legte sich bleischwer über ihren Atem, und die Tatsache, dass das gesamte Gebäude abgedunkelt war und selbst am hellen Tage von Fackelschein beleuchtet werden musste, verhieß in ihren Augen nichts Gutes. Aber wie entsetzt war sie, als sich die Türflügel des Audienzsaals vor ihr öffneten! Sie hatte das Gefühl, in einen dunklen Höllenpfuhl zu steigen, aus dem es keine Rückkehr gab. Die Eindrücke, die wie ein Unwetter auf sie niederprasselten, waren so schrecklich, dass Elenas Verstand sich ihnen verweigerte; Tierkadaver, die von der Decke hingen, ausgestopfte Monstren und giftiges Getier, das sich auf dem Boden ringelte – es war schlichtweg zu viel für die junge Frau. Aber all das verblasste noch gegen den Herrscher dieser finsteren Welt, einen bleichen, kahlen Fleischberg, der auf einem Podium thronte und dessen rechtes Auge leuchtete, als hätte es tatsächlich in lodernde Höllenschlünde
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