Die Erben der Schwarzen Flagge
Gewand hervorgezogen hatte. Der Conde blieb stehen wie vom Donner gerührt, blickte an sich herab und sah den dunklen Fleck, der sich über seinen Oberkörper ausbreitete und das Hemd und den Mantel tränkte.
Elena de Navarro stieß einen lauten Schrei aus, als sie begriff, was geschehen war. Sie eilte zu ihrem Vater, der auf die Knie sank und nach hinten fiel, in die Arme seiner Tochter.
»Vater! Nein …«, schluchzte Elena, während sie in die gebrochenen Augen des Mannes blickte, den sie gleichermaßen geliebt und gefürchtet hatte. Nachdem sie jahrelang in stiller Bewunderung zu ihm aufgeblickt hatte, hatte sie in den letzten Tagen auch die andere Seite von Carlos de Navarro kennen gelernt, denruchlosen Machtmenschen, der mit Räubern und Mördern paktierte, um seine Ziele durchzusetzen. Zuletzt aber hatte das Gute in ihm gesiegt, und er hatte seinen Fehler wieder gutmachen wollen. Zu spät …
»Es tut mir Leid, Elena«, hauchte der Conde mit ersterbender Stimme. »Behalte mich in Erinnerung, wie ich einst …«
Mehr brachte er nicht hervor. Noch einmal verkrampfte er sich und stöhnte leise, dann fiel sein Kopf zur Seite.
Da überstürzten sich die Ereignisse.
Atemlos hatte Nick mit angesehen, was geschehen war. Navarros Tod hätte ihn nicht weiter berührt, aber es schmerzte ihn, Elena trauern zu sehen. Dazu kam, dass der Conde von Maracaibo in den letzten Sekunden seines Lebens Nicks unfreiwilliger Verbündeter gewesen war. Der gemeinsame Feind Bricassart hatte ihre persönliche Fehde in den Hintergrund treten lassen. Da war es nur recht und billig, dass Nick zu Ende brachte, was Navarro begonnen hatte.
Das Entermesser erhoben, fuhr er herum und wollte sich auf Bricassart stürzen, der die rauchende Pistole noch in der Hand hielt – als die Tür des Audienzsaals aufplatzte und eine Meute bis an die Zähne bewaffneter Piraten in den Saal stürmte.
»Verdammt!«, rief Nobody Jim und hob seine Pistole, wusste jedoch nicht, worauf er zielen sollte – es waren zu viele.
In Sekundenschnelle hatten die Piraten Nick und seine Leute eingekreist. Zu allen Seiten sahen sich die Bukaniere von einer Phalanx aus Pistolenmündungen und geschärften Klingen umgeben.
» Bien, was ist?«, fragte Bricassart hämisch. »Ergebt Euch oder sterbt – mir ist es einerlei.«
Nick und die Seinen standen reglos da, die Waffen in der Hand. Wenn sie sich entschlossen zu kämpfen, würde es ihrletzter Kampf werden. Vielleicht würde es ihnen gelingen, den einen oder anderen Piraten ins Jenseits zu schicken, ehe sie selbst dahingemetzelt wurden, aber sicher war, dass das Scharmützel nur Augenblicke währen würde. Ergaben sie sich, würde Bricassart sie gefangen nehmen und aller Wahrscheinlichkeit nach dem Ritual aussetzen, von dem Elena ihnen berichtet hatte und in dem aus freien Männern willenlose Sklaven wurden.
Die Entscheidung darüber lag bei Nick. Er wusste, dass seine Gefährten ihm bedingungslos folgen würden, unabhängig davon, was er beschloss. Sie hatten ihm Treue geschworen und würden diesen Schwur bis zum letzten Atemzug erfüllen. Erneut musste Nick an O’Rorkes Worte denken, an die Verantwortung, die er trug. Sein Blick fiel auf Elena, die noch immer am Boden kauerte, über Navarros Leichnam gebeugt und so in ihrer Trauer gefangen, dass sie nicht bemerkte, was ringsum vor sich ging. Entschied sich Nick zu kämpfen, verurteilte er damit auch sie zum Tod – und das konnte er nicht.
Wäre es nur um ihn und seine Männer gegangen, hätte er eher einen raschen Tod im Kampf als ein Schattendasein in Bricassarts Diensten gewählt, aber er konnte und wollte die Entscheidung nicht für Elena treffen. Mit bitterer Miene ließ er sein Entermesser fallen, sodass es klirrend auf dem Boden landete. Seine Gefährten taten es ihm gleich, und Bricassarts Leute traten vor und ergriffen sie.
»Espèces d’imbéciles« , rief der Piratenführer aus, »Ihr elenden Narren! Habt ihr wirklich geglaubt, ich wäre völlig wehrlos? Habt ihr angenommen, ich würde in aller Seelenruhe darauf warten, dass ihr mich meuchelt? Eure Sache war schon verloren, als ihr euren Fuß auf meine Insel gesetzt habt. Und seid nicht so töricht, eure Hoffnung auf die Engländer dort unten in der Bucht zu setzen, denn sie sind ebenso dumm wie ihr und haben sichauf ein Abenteuer eingelassen, dessen Ausgang sie nicht im Entferntesten absehen konnten. Just in diesem Augenblick wird ihr Schicksal besiegelt …«
14.
D amian Bricassarts Augen hatten
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