Die Erben der Schwarzen Flagge
Laternenträger noch rufen, ehe auch dieser von den Wurfklingen des Griechen ereilt wurde. Ächzend ging der Mann zu Boden und fiel über seinen toten Kameraden. Im nächsten Augenblick war Jim auch schon bei ihnen, um ihnen die Schlüssel für die Fußketten der Sklaven zu entwenden.
Nun musste es blitzschnell gehen.
Im Nu hatte Jim die Schlüssel verteilt, und die Bukaniere eilten zu den Unterständen, um die Sklaven zu befreien. Jim selbst freilich rannte zu jener Baracke, die lange Jahre sein unfreiwilliges Zuhause gewesen war. Mit einer Sicherheit, die ihn fast erschreckte, fand er den Weg und schlich hinein, musste sich ducken, um sich an den niederen Deckenbalken nicht den Kopf zu stoßen.
»Unquatl?«, fragte er in das Halbdunkel, in dem abgemagerte, halb nackte Leiber dicht gedrängt auf dem Boden lagen. »Unquatl, bist du da?«
Irgendwo in der Mitte des Menschenhaufens regte sich etwas. Ein Schnauben war zu hören, und ein kahl rasierter Schädel hob sich, an dessen markanter Form Jim den Freund sofort erkannte.
»Unquatl!«
Der Indianer, dessen Gestalt seit ihrer Flucht noch sehniger und hagerer geworden war, blickte ihn aus großen Augen an.
»Nobody Jim«, sagte er, und es klang unsagbar enttäuscht. »Also alles nur ein Traum gewesen. Unquatl nur geträumt, dass Flucht gelungen. In Wahrheit noch immer hier …« Schon wollte der Indianer, der noch nicht ganz bei sich war, sich wieder hinlegen; Jim jedoch packte ihn und rüttelte ihn wach.
»Du hast nicht geträumt, Unquatl«, stellte er klar. »Nick und ich sind wirklich geflohen – aber nun sind wir zurück, um euch aus diesem Loch herauszuholen.«
»Jim?«, fragte der Indianer leise. Erst jetzt schien er ihn wirklich zu erkennen.
»Genau der bin ich«, versicherte der Afrikaner grinsend.
»Aber Unquatl kann nicht fliehen … zu schwach zum Laufen, wird euch nur aufhalten.«
»Dann wirst du als Einziger hier bleiben müssen, fürchte ich – denn heute Nacht werden wir alle gehen.«
Damit schloss er die Fußfesseln des Indianers auf, der einen überraschten Laut von sich gab, als die rostigen Eisen von seinen Gelenken abfielen – endlich, nach fast fünfzehn Jahren, in denen er sie Tag und Nacht getragen hatte.
Während Unquatl noch seine eitrigen Gelenke befühlte, war Jim schon dabei, auch die anderen Sklaven des Unterstands zu befreien. Auf die Plätze, die er, Nick und der alte Angus gezwungenermaßen belegt hatten, waren längst andere Sklaven nachgerückt, Gefangene aus dem Krieg gegen Frankreich. Obwohl sie weder Spanisch noch Englisch sprachen und somit nicht verstehen konnten, was Jim ihnen klar zu machen versuchte, begriffen die Männer, was die Stunde geschlagen hatte. Kaum waren sie ihrer Fesseln beraubt, sprangen sie auf die Beine und rannten davon. Auch Jim und die übrigen befreiten Sklaven eilten ausdem Unterstand, unter ihnen Unquatl, der erst jetzt zu begreifen schien, dass dies kein Traum war, sondern die Wirklichkeit.
»Frei, frei«, sagte er immer wieder. »Unquatl ist frei …«
Draußen bot sich ein gespenstischer Anblick. Es herrschte rege Betriebsamkeit, das ganze Lager war auf den Beinen – aber die hageren Gestalten, die durch das Mondlicht huschten, bewegten sich fast lautlos, denn ihnen war klar, dass jedes unvorsichtige Geräusch ihr Ende bedeuten konnte. Die Bukaniere hatten ganze Arbeit geleistet und die Gefangenen rasch befreit, und die Sklaven ihrerseits hatten sich nicht lange bitten lassen. So leise, wie es nur irgend ging, schlichen sie durch die Gassen zum rückwärtigen Teil des Lagers, wohin die Bukaniere sie führten. Zwei Wächter, denen sie unterwegs begegneten, wurden zum Schweigen gebracht, noch ehe sie Alarm schlagen konnten.
Im Schutz der Dunkelheit zogen sie sich zu jener Stelle der Palisadenmauer zurück, über die die Bukaniere eingedrungen waren. Die befreiten Sklaven – insgesamt über zweihundert Mann – alle über den Zaun klettern zu lassen, hätte zu lange gedauert. Nick Flanagans Plan sah eine ungleich zeitsparendere Methode vor.
Als Jim und Unquatl an den Palisaden angelangten, hatte Mc-Cabe bereits alles vorbereitet: Mit dem Schießpulver aus dem Fass hatte er eine Lunte gelegt und den Rest des Pulvers unterhalb des Umgrenzungszauns deponiert.
»Zeit, dass wir verschwinden«, raunte Jim dem Schotten zu. »Die Wächter werden jeden Augenblick merken, was …«
Wie um seine Befürchtung zu bestätigen, erklang ein Schuss, gefolgt von einem gellenden Schrei.
»Alarma!« ,
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