Die Erben des Terrors (German Edition)
auf die Plattform. Durch die starke Strömung des Río Esmeraldas wollte seine Ausrüstung nicht unter Wasser bleiben, aber das störte Sutter nicht – er hatte nicht vor, lange hierzubleiben.
Lautlos kletterte er die drei Stufen am Heck des Bootes auf Deck. Vor ihm war eine offene Luke. Er blickte vorsichtig hinein und sah eine schlafende Frau, ihr nackter Oberkörper von ihren langen, schwarzbraunen Haaren bedeckt, um ihre Beine schlang sich ein bunter Pareo. Neben ihr lag ein grauhaariger Mann, sicher schon Siebzig. Und das, dachte Sutter, ist heute der größte Feind der freien Welt. Ein alter Sack und eine Nutte.
Sutter richtete die P226 auf den Kopf des Mannes und drückte ab. Ein leises Plopp verkündete, dass das Geschoss den Lauf verlassen hatte, ein leichtes Knacksen den Einschlag in das Lärchenholz des Bootes, einige Zentimeter hinter Dzerzhinskys Kopf. Aus der Einschusswunde spritzte einmal kurz Blut, bis der Puls zu schwach wurde. Es spritzte auf die junge Frau, was ein entsetzlicher Anblick war. Vor allem aber weckte es sie auf.
Célestine wachte auf, weil es ihr warm ins Gesicht tropfte. „Nicht schon wieder Regen“, war ihr erster Gedanke, als sie sich die Feuchtigkeit abwischen wollte. Aber der Regen war zu warm, und er klebte. Das war kein Regen, beschloss sie, während sie langsam ihre Augen öffnete. Entsetzt sah sie im Halbdunkel des Mondes dunkelrotes Blut an ihrer Hand, sah zu Grigory hinüber und das blutige Loch in seinem Kopf. Sie setzte sich auf und war kurz davor, loszuschreien, als sie einen Schatten bemerkte. Sie sah nach oben und sah einen Mann in einem schwarzen Neoprenanzug mit einer matten, schwarzen Waffe, die auf ihren Kopf gerichtet war. Sie schrie.
Das blutverschmierte, halbnackte Mädchen war erstaunlich ruhig geblieben, befand Sutter. Bis jetzt. „Pschhht“, machte er harsch, und zu seiner Verwund erung gehorchte sie sofort. „Célestine?“, sprach er sie an.
Der Mann war angsteinflößend, sodass Célestine lieber ruhig blieb. Aber plötzlich sagte er ihren Namen. Er sprach ihn so aus, wie jemand, dem man gerade in die Weichteile getreten hatte, aber er sprach ihn aus. Woher wusste der Mann ihren Namen? Hatte Hone tatsächlich jemanden hierher geschickt, um sie zurückzuholen? War das der Mann, der ihre einzige Hoffnung auf Freiheit zerstörte?
„Ich will nicht mehr nach Hause. Bitte, bitte nicht zu Hone“, flehte sie.
Sutter verstand kein Wort. Er sprach fließend Spanisch und Arabisch, gutes Russisch, etwas Farsi und zumindest ein paar Brocken der Sprachen Zentralasiens, aber außer ein paar Brocken wie Hallo, Bitte, Danke und Entschuldigung kein Französisch – wozu auch? Der Teil der Welt, in dem französisch gesprochen wurde, war entweder zivilisiert oder politisch uninteressant. Zumindest, als Sutter Agent wurde. Für Afrika könnte sich das langsam lohnen, aber dafür war Sutter zu alt.
„Bitte, bitte nicht. Das hier sollte meine Zukunft sein, und Grigory war zwar alt, aber ein guter Mann. Und ich hatte Pläne – ich wollte nach Amerika, ich wollte ins Land der Freiheit, ich wollte ein neues Leben anfangen. Mit ihm oder, natü rlich besser, mit einem netten jungen Amerikaner. Ich will nicht mehr zurück nach Hause.“
Sie fing an, zu weinen.
„Aber jetzt? Amerika ist noch Wochen weit weg, Wochen durch das kalte Meer mit den Stürmen, und ich kann das mit dem Boot auch nicht gut, das Segeln. Wie soll ich denn jetzt nach Amerika kommen, in die Freiheit? Nein, Grigory war meine einzige Chance, und du hast sie kaputtgemacht, du Monster!“
Sutter hatte noch nie so viel Hass und Verzweiflung gleichzeitig gesehen, wie im Blick des jungen Mädchens, das ihn offensichtlich nicht mehr anbettelte, sondern anschrie.
„Monster! Du bist ein abscheuliches Monster! Was habe ich denn falsch gemacht? Ich habe Träume, will nach Kalifornien, nach Hollywood, ich will durch die friedlichen amerikanischen Straßen laufen, ich will in einen Beauty-Salon, mir die Haare machen lassen, ich will Hamburger essen in einem Diner, in so runden Sitzecken. Ich will Schauspielerin werden, oder zumindest so einen kleinen Hund, ich will einen Mann, der mir die Türe aufhält. Und jetzt? Jetzt komme ich sicher nicht nach Amerika. Du hast meine Träume zerstört, nein, du hast meine Zukunft zerstört, du Monster.“
Sutter versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was gerade passierte. Die junge Frau war aufgewacht, hatte ihren – äh, Kunden tot neben sich gefunden, war bei
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