Die Erben von Atlantis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Gedächtnis, dass die Nomaden nicht die einzigen Opfer von Pauls Eden waren: Da waren die kleine Colleen und die anderen Kinder, denen während der letzten Jahre etwas zugestoßen war. Die hatte Paul auch nicht beschützt. Außerdem ging es auch nicht nur um mich: Lillys Leben war genauso bedroht. Die Nomaden hatten ein Mädchen erwähnt, und Lilly war außer mir die Einzige, die die Sirene gesehen hatte. Ich wünschte, ich wüsste, wo sie jetzt war. Sie war die Einzige, mit der ich über alles reden, die Einzige, der ich vertrauen konnte.
Pauls Hand hob sich von meiner Schulter. »Pass auf, ich muss mich noch um ein paar Sachen kümmern. In der Zwischenzeit lass ich dich in mein Büro bringen. Wir werden uns in aller Ruhe unterhalten, wie wir’s schon lange hätten tun sollen. Das klingt doch gut, oder?«
Ich schaute in seine dunkle Brille und wusste erst nicht recht, was ich sagen sollte. Eigentlich gab es aber bloß eine mögliche Antwort. »Okay.«
»Gut.« Er tätschelte mein Knie. »Gedulde dich noch einen Moment. Meine Männer kümmern sich um dich.« Er erhob sich und ging.
Sobald er weg war, versuchte ich, meine Beine zu bewegen. Sie fühlten sich noch immer etwas wacklig an, aber ich schaffte es, die Knie zur Brust zu ziehen. Dann legte ich die Arme darum. Ich zitterte. Es war einfach alles zu viel.
Ich sah zu, wie Paul zu den drei Leichen zurückging. Einer seiner Leute händigte ihm Pyras Handy aus. Ein Stück weiter kümmerte sich Dr. Maria um Evan. Immer wieder schaute sie zu den Leichen. Paul der Lügner. Und Dr. Maria … wer oder was war sie? Was hatte dieses Nicken vorhin zu bedeuten gehabt? Und dass sie wegen der Nomaden fast geweint hätte … Vielleicht war es bloß der Anblick des Todes gewesen – oder steckte doch mehr dahinter?
Ich stellte die Füße auf den Boden, stützte mich am Baum ab und kämpfte mich hoch. Es brauchte einen Moment, dann hatte ich mein Gleichgewicht wieder.
Paul hatte die Brücke überquert und schaute sich mit Cartier das zerstörte Schloss an der Luke an.
Gedulde dich noch , hatte er gesagt. Na sicher. Einfach ganz geduldig warten, was als Nächstes passierte. Bis ich wieder ertrank oder eine Vision hatte, Leute komische Bemerkungen machten, mich zu entführen versuchten oder wieder jemand ums Leben kam. Ich dachte an alles, was sich die letzten Tage ereignet hatte, ohne dass ich eine Ahnung hatte, wieso. Und war es nicht auch meine Schuld? Ich hatte all die nagenden Fragen viel zu lange ignoriert – was hier eigentlich los war, das mit meinen Kiemen, einfach alles – und mich stattdessen nur für die Nächte mit Lilly interessiert. Es war so gut gewesen, endlich einmal dazuzugehören. Doch ich konnte den Fragen nicht länger ausweichen – nicht nach dem, was gerade passiert war.
Ich spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen, spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte und das Zittern wieder stärker wurde.
Zehn Meter weiter lagen drei Menschen, die meinetwegen jetzt tot waren. Und daneben lag Evan. Auch er hatte sich bestimmte Fragen nicht stellen wollen. Und auch wenn ich mich zu jeder anderen Gelegenheit gefreut hätte, ihn so platt am Boden zu sehen, empfand ich keine Freude in diesem Moment. Ob er wieder auf die Beine kam? Oder war er ein weiteres meiner Opfer? Und was, wenn nicht er, sondern Lilly mich gerade verfolgt hätte? Wenn die Nomaden auch sie entführt hätten? Eine verirrte Kugel, ein Sturz von der Brücke – und auch sie hätte nun eine der Leichen dort auf den Kiefernnadeln sein können …
Ich musste unbedingt mit ihr reden. Bestimmt wusste sie, was zu tun war. Doch im Moment aber war das keine Option – ich musste schon selbst eine Entscheidung fällen.
Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Spannte meine Zehen an. Schwang meine Arme. Alle Systeme wieder online? , fragte ich meine Techniker.
Yes Sir, sieht gut aus , meldeten sie.
Dann macht euch bereit.
Paul und Cartier waren noch mit der Luke beschäftigt. Dr. Maria hatte sich mit ihrer Stiftlampe über Evan gebeugt.
Alle wandten mir gerade den Rücken zu.
Ich drehte mich um und rannte davon.
So schnell es ging, ohne mich umzudrehen. Direkt in den Wald und den Hang hinab, wobei ich in den braunen Nadeln beinahe ausgerutscht wäre. Erst nach einer ganzen Weile wagte ich einen Blick zurück – es war niemand zu sehen. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie mein Verschwinden bemerkten? Wahrscheinlich war es nur noch eine Frage
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