Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
edlen Toliver-Namen vor einem Skandal zu bewahren. Niemals.
In ihrem Schmerz erinnerte sie sich an die Zeilen eines Gedichts von Edna St. Vincent Millay, das sie viele Jahre zuvor in Bellington Hall auswendig gelernt und seither immer wieder aufgesagt hatte:
Liebe in der offnen Hand nur,
Ohne Schmuck und Arg und Schmerz,
Wie Schlüsselblumen im schwingenden Hut
Oder Äpfel im Rock unterm Herz,
Bring ich dir wie ein Kind und sage:
»Alles für dich! Schau, was ich habe!«
Diese Zeilen beschrieben ihre Liebe zu Percy genau, der ihr die Äpfel aus der Rockschürze geschlagen und sein Herz einer Frau geschenkt hatte, die nur eine Baumwollplantage lieben konnte. Sollten Percy und alle, die sich noch an damals erinnerten, doch meinen, sie habe sie ihrer Schönheit und ihres Stils wegen verachtet. Nein, sie hatte Mary nur aus einem einzigen Grund gehasst: Weil sie es nicht verdiente, das Herz des Mannes zu gewinnen und zu behalten, den sie, Lucy, liebte.
Lucy hob den Hörer ans Ohr und wiederholte stumm die Worte, die sie fünf Jahrzehnte lang für diesen Zeitpunkt geprobt hatte. »Percy«, würde sie mit glasklarer Stimme sagen und ihm nach kurzem Schweigen, das sie ihm zugestand, damit er sich von seiner Verblüffung erholte, folgenden Satz entgegenschleudern: »Jetzt kannst du deine Scheidung haben.«
Bevor der Mut sie verließ, holte sie tief Luft und wählte die Nummer. Nun wünschte sie sich fast, dass er sich nicht sofort melden würde und ihr ein wenig Zeit bliebe, sich auf
die Stimme vorzubereiten, die sie vierunddreißig Jahre lang nicht mehr gehört hatte.
Doch er ging beim ersten Klingeln ran. »Hallo?«
Alter … und Kummer … hatten die Stimme, an die sie sich erinnerte, verändert, doch sie erkannte sie ohne Mühe. Plötzlich war ihr, als hätte es die vergangenen Jahre nie gegeben, und sie stünde wieder auf der Veranda von Warwick Hall und starrte den jungen Fahrer des nagelneuen Pierce-Arrow an, der den Wagen am Fuß der Treppe vor ihr zum Stehen brachte. Das Licht der Sonne ließ seine blonden Haare, seine gebräunte Haut und seine weißen Zähne erglänzen. »Hallo?« , fragte er in tiefem, warmem Tonfall, und erneut flog ihr Herz ihm zu.
»Hallo?«, wiederholte Percy.
Lucy atmete aus und legte, kurz dem Klang seiner Stimme nachlauschend, auf.
DRITTER TEIL
NEUNUNDVIERZIG
I n Kermit, Texas, nahm Alice Toliver den Telefonhörer von der Gabel.
»Mama, ich bin’s, Rachel.«
»Ist es schon so weit gekommen, dass meine einzige Tochter sich mit Namen zu erkennen geben muss, wenn sie mich ›Mama‹ nennt?«
Rachel betrübte der gekränkte Tonfall ihrer Mutter. »Tut mir leid, Mama. Die reine Gewohnheit.«
»Ich gehöre schon lange nicht mehr zu deinen Gewohnheiten, Rachel. Was ist passiert?«
Rachel seufzte leise. »Tante Mary ist gestorben, vor ein paar Stunden, an einem Herzschlag. Amos hat mich gerade angerufen.«
Rachel glaubte fast, die Gedanken ihrer Mutter zu hören: Dann kriegst du jetzt also, was du immer wolltest, und was deine Kinder nach deinem Tod bekommen, während Jimmy wie sein Vater und dessen Vater leer ausgeht. Doch Alice sprach sie nicht aus, sondern fragte: »Wann findet die Beisetzung statt? Dein Daddy möchte sicher hingehen.«
»Das werde ich erst morgen nach dem Gespräch mit dem Bestattungsunternehmer wissen. Ich nehme gleich in der Früh das Firmenflugzeug. Vielleicht … könnten wir alle gemeinsam fliegen.«
»Rachel, du weißt doch, wie meine Einstellung deiner Großtante Mary gegenüber war, und sie wusste es auch. Es wäre Heuchelei, wenn ich zu ihrer Beerdigung ginge.«
Du sollst ja auch nicht ihret-, sondern meinetwegen hin, Mama , hätte Rachel am liebsten gesagt, die sich danach sehnte, die tröstenden Arme ihrer Mutter zu spüren, wie damals als kleines Mädchen, als sie sich noch nahe gewesen waren. »Amos hat mich gebeten, wenigstens Jimmy zu überreden, dass er Daddy begleitet. Er meint, sie sollten bei der Verlesung von Tante Marys Testament dabei sein.«
Langes Schweigen. »Soll das heißen, dass deine Großtante ihnen etwas hinterlassen konnte? Die Baumwollpreise waren dieses Jahr nicht gerade hoch.«
»Vermutlich. Amos meint, das wäre ihr letzter Gruß an sie.«
»Dieser Gruß wiegt ihr Versprechen an deinen Vater nicht auf, aber wir nehmen, was wir kriegen können. Und wenn das bedeutet, dass wir nach Howbutker müssen, fahren wir eben hin.«
»Du auch, Mama?«
»Ich kann die beiden nicht allein fahren lassen. Sonst wechseln sie mir am
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