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Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Titel: Die Erben von Somerset: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leila Meacham
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gekauft hat. Ich sollte es Ihnen bringen, wenn er selber nicht mehr nach Hause käme, und zwar persönlich, egal, wie lange das dauern würde.«
    Percy betrachtete das rechteckige Paket. »Ist es für seine Frau?«
    »Nein, Sir, für Sie. Er sagte, Sie würden schon verstehen, was es bedeutet.«
    Mit trockenem Mund legte Percy das Paket auf den Tisch. Es war mit schmutzigem Klebeband und Papier verschlossen. Percy riss beides weg. Darunter befand sich ein nicht sonderlich gutes impressionistisches Gemälde von einem lächelnden Jungen in Kniehose, der auf einen Palisadenzaun im Vordergrund zulief. Zuerst erkannte Percy nicht, was er in den Armen hielt, und auch nicht, was das Feld um den Jungen herum darstellen sollte. Als es ihm klar wurde, stieß er einen markerschütternden Schrei aus. Der Junge rannte mit einem Arm voller weißer Rosen durch einen Garten.
     
    Ein leichter Schmerz in der Brust brachte Percy dazu, die Augen aufzuschlagen. Als er mit den Fingern über sein Gesicht wischte, fühlten sie sich feucht an, nicht von Schweiß, das wusste er. Wie spät war es? Die Veranda vor dem Wohnzimmer lag im Schatten, und es wehte ein leichter Wind, wie meist am späten Nachmittag. Er schüttelte den Kopf, um klarere Gedanken zu fassen. Wie lange saß er schon hier draußen und beschwor die Geister der Vergangenheit? Du gütiger Himmel, es war nach fünf Uhr, und Mary, seine Mary, seit vier Stunden tot. Er stand auf. Seine Beine waren wackelig und an den Rückseiten ein wenig feucht von der Hitze. Mit steifen Schritten verließ er die Terrasse und die Geister und betrat den Wohnraum, wo sein Blick zu dem Bild über dem Kamin wanderte. Sofort ließ der Schmerz in seiner Brust nach. Die Erinnerung konnte etwas Schreckliches sein, dachte er, ein
Folterinstrument, das auch dann noch Schmerz verursachte, wenn die eigentliche Marter längst vorbei war. Percy schenkte sich ein Glas Wasser ein, um seinen Durst zu löschen, und hob es in Richtung des Gemäldes. »Am Ende, Gypsy, können wir uns wohl nicht mehr als einen Arm voll weißer Rosen erhoffen.«

ACHTUNDVIERZIG
    I n Atlanta betrat Lucy Gentry Warwick, auf ihren Gehstock gestützt, vorsichtig den mit Platten belegten Weg in ihrem kleinen ummauerten Garten hinter dem Haus, der tagsüber eher unscheinbar wirkte, an einem lauen Sommerabend jedoch Beeindruckendes zu bieten hatte: Weiß überall – Chrysanthemen, Wandelröschen, Anemonen, Immergrün, Hornkraut. Im Mondlicht schimmerten die weißen Blüten überirdisch-magisch. Lucy setzte sich auf eine der Steinbänke, ohne die Schönheit des Gartens zu würdigen. Ihre Gedanken galten Mary Toliver DuMont.
    Ein Anruf ihrer alten Nachbarin und Spionin Hannah Barweise hatte sie aus dem Nachmittagsschlaf gerissen. Hannah, die nach wie vor neben den Tolivers wohnte, berichtete, gegen Mittag habe sie Sanitäter kommen und Sassie und Henry hin und her hasten sehen. Dann habe sie beobachtet, wie Percy und Matt hineinstürzten, und bereits eine Stunde später hätten alle in der Gegend von Marys Tod gewusst.
    »Wie hat er ausgesehen?«, fragte Lucy.
    »Wer?«
    »Percy.«
    »Wie eh und je. Älter, nicht mehr so rüstig wie früher, aber immer noch der alte Percy Warwick, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Ja. Erzähl mir mehr. Woran ist sie gestorben?«
    Nachdem Hannah ihr die Einzelheiten geschildert hatte, soweit sie ihr bekannt waren, legte Lucy, am ganzen Körper
zitternd, auf. Der Tag, auf den sie seit vierzig Jahren gewartet hatte, war endlich da: Mary Toliver DuMont war tot und Percy allein, in Trauer um sie. Sie hatte ihm die ganze Zeit über gewünscht, dass er bis zu seinem Ende unter diesem Schmerz leiden müsste, genau wie sie.
    Warum nur überkam sie nicht die erwartete Euphorie? Wieso spürte sie diesen Druck im Zwerchfell, wenn sie sich die tote Mary vorstellte, die grünen Augen leblos, das Gesicht weiß wie Marmor? Noch im Grab gelang es Mary, sie um die verdiente Befriedigung zu bringen, auf die sie sich so lange gefreut hatte.
    Sie zuckte mit den Achseln. Dass Marys Ableben sie aus der Fassung brachte, hing wohl damit zusammen, dass Lucy fünfundachtzig war und ihr der gleiche Schatten drohte wie Mary … Mary Toliver DuMont, das alte Schlachtross, in der Sommersonne auf ihrer Veranda vom Tod überrascht. Doch bevor Lucy selbst an der Reihe wäre, würde sie ihren lang ersehnten Triumph auskosten; dann … durfte der Schatten ihretwegen auch auf sie fallen.
    »Miss Lucy, was machen Sie denn am Nachmittag

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