Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
hier draußen?«, fragte Betty, ihr Hausmädchen seit vielen Jahren, die den Kopf durch die Tür herausstreckte und in die grelle Sonne blinzelte. Lucy bedachte sie mit einem verärgerten Blick. Mutter Gottes! Und sie hatte geglaubt, Betty, die die Fünf-Uhr-Nachrichten anschaute, hätte ihr Hinausgehen nicht bemerkt! Betty war ein gutes Mädchen, aber leider auch eine Plaudertasche. Lucy durfte sie nicht in ihre Hörweite lassen, wenn sie ihren Sieg vorbereitete. »Nachdenken«, antwortete sie. »Geh zurück zu den Nachrichten.«
»Nachdenken? In der Hitze? Worüber denn? Etwa über die Frau, die gerade gestorben ist?«
»Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf und setz dich wieder vor den Fernseher.«
»Wie könnte ich, wenn Sie sich da draußen vielleicht einen Hitzschlag holen?«
»Ich bin zu alt für einen Hitzschlag. Ich komme gleich rein, doch zuvor möchte ich noch ein bisschen den Garten genießen. Deswegen habe ich ihn angelegt.«
Betty seufzte. »Wie Sie meinen, Miss Lucy. Brauchen Sie irgendwas?«
Lucy spielte mit dem Gedanken, sie um ein Glas Brandy zu bitten, doch dann würde Betty an der Tür warten, bis sie es leer getrunken hätte, um sicher zu sein, dass sie es allein zurück ins Haus schaffte. »Nur Ruhe und Frieden, Betty.«
Betty zog die Tür kopfschüttelnd zu, und Lucy ließ ihr ein paar Minuten Zeit, wieder zum Fernseher zu gehen, bevor sie begann, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Hannah hatte Betty gebeten, Lucy aus dem Nachmittagsschlaf zu wecken, weil eine alte Schulkameradin und Nachbarin in Howbutker gestorben sei. Wenn ihr Hausmädchen nun ihr Telefonat belauschte, brauchte Betty nur zwei und zwei zusammenzuzählen, um zu wissen, warum Lucy und Percy all die Jahre verheiratet geblieben waren.
Zu Beginn ihrer Zeit in Atlanta hatten alle Lucy für das tragische Opfer eines mächtigen, despotischen Ehemannes gehalten, der sie nicht freigeben wollte, ein Irrtum, den sie nicht richtigstellte. Ihre neuen Bekannten waren beeindruckt, dass er, obwohl sie getrennt von ihm lebte, nach wie vor für ihre Miete, ihre Kleidung und ihren aufwändigen Lebensstil aufkam, ohne nachzufragen oder ihr Grenzen zu setzen. Das verlieh ihr eine Aura des Mysteriösen und verschaffte ihr Zutritt zum inneren Kreis der besseren Gesellschaft von Atlanta. Als verstoßene Frau eines reichen, mächtigen Mannes, dem sie die Scheidung verweigerte, wäre sie an deren Rand verbannt geblieben.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Betty sich wieder
aufs Fernsehen konzentrierte, öffnete sie die Tür zu einem Steinschränkchen neben der Bank und holte ein Telefon heraus. Die Nummer, die sie wählen wollte, war seit Urzeiten dieselbe, und sie kannte sie auswendig: die des Wohnzimmeranschlusses in Warwick Hall. Wenn sich jemand anders meldete als Percy, würde sie auflegen und es später noch einmal versuchen, doch sie hätte gewettet, dass er, tief in Trauer versunken, direkt neben dem Apparat saß. Hoffentlich war Matt nicht bei ihm. Obwohl der Junge sie liebte, galt seine Loyalität Percy – wie Wyatt es sich gewünscht hatte. Er würde es ihr bestimmt übel nehmen, wenn sie den Schmerz seines Großvaters verschlimmerte.
Wieder einmal stiegen die alten Ressentiments in ihr hoch. Sie hatte Wyatt mittlerweile verziehen, dass er Matt und seine Frau Percy und nicht ihr anvertraute. Aber die Zurückweisung durch den Vater in Kindheit und Jugend hatte er ihm gewiss nicht vergeben. Das tröstete sie. Percy brauchte sich nicht einzubilden, dass Matt Wyatts weiße Rose an seinen Vater darstellte.
Im Lauf der Zeit war ihre Wut auf Percy des frühen Scheiterns ihrer Ehe wegen gemildert worden. Sie hatte ihn in dem Glauben geheiratet, dass das, was sie Mary in Bellington Hall sagte, stimmte, dass nämlich Lucys Liebe zu Percy sie zu der Frau machen würde, die er verdiente. Doch ihre Liebe hatte das genaue Gegenteil bewirkt, und in der Ehe war sie zu ihrer eigenen Überraschung, zu ihrem Schrecken und letztlich, ohne sich dagegen wehren zu können, mehr und mehr zu der Frau geworden, die Mary als für Percy ungeeignet erachtet hatte. Wenn sie ein wenig klüger vorgegangen wäre und ihre Derbheit in den Griff bekommen hätte … nein, ihre Ehe war, seit sie von seinen Gefühlen für Mary wusste, nicht zu retten gewesen. Sie hätte ihm verzeihen können, dass er sie und ihren Sohn zurückwies, denn das bereute er später, aber nicht
seine Liebe zu dieser Marmorstatue von Frau, die ihn nur geheiratet hätte, um ihren
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