Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
Ende die Unterhosen nicht.«
»Es freut mich, wenn ihr kommt. Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Und wer hat sich das zuzuschreiben?«
Rachel griff nach einem Taschentuch und versuchte, ihre Tränen zu ersticken, doch Alice schien sie zu hören. Jedenfalls klang sie deutlich sanfter, als sie fortfuhr: »Rachel, ich weiß, das ist ein schwerer Schlag für dich, aber ich kann dir einfach kein Beileid aussprechen. Dir ist klar, warum …«
»Ja, Mama.«
»Ich geh deinen Vater wecken. Es ist Donnerstag.«
An Donnerstagen hatte Zack Mitchells Lebensmittelgeschäft, in dem Rachels Vater seit sechsunddreißig Jahren als Metzger arbeitete, länger geöffnet. Da er an diesem Tag bis um neun Uhr im Laden bleiben musste, durfte er sich eine
um eine halbe Stunde längere Mittagspause gönnen, die er normalerweise für ein Schläfchen nutzte.
»Häschen«, begrüßte er sie wenig später. Seine Stimme klang genauso tröstend und einfühlsam wie früher nach Rachels Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter über ihre immer stärkere Hinwendung zur Houston Avenue. Ihr Vater hatte nie Partei ergriffen, und eines musste sie ihrer Mutter lassen: Sie hatte nie versucht, ihn gegen sie aufzuhetzen. »Häschen« war sein Kosename für sie gewesen, als sie das Laufen lernte.
»Geht’s dir wieder besser, Liebes?«, fragte er, nachdem er ihr ein paar Sekunden Zeit gegeben hatte, sich zu fangen.
»Ja, Daddy. Du und Mama und Jimmy, ihr fehlt mir so sehr, besonders jetzt. Amos möchte, dass du mit Jimmy zur Testamentseröffnung kommst. Es wäre schön, wenn wir morgen gemeinsam das Firmenflugzeug nehmen könnten. Wir würden euch am Flughafen von Kermit abholen.«
William Toliver räusperte sich. »Rachel, Liebes, ich sehe da ein Problem. Fürchtest du keine Spannungen, wenn du dich unter den gegebenen Umständen auf so engem Raum mit deiner Mutter aufhältst? Und …« Als er ihr Seufzen hörte, fuhr er hastig fort, damit sie keine Zeit hatte, ihn zu unterbrechen: »Ich werde frühestens übermorgen hier wegkönnen. Ich möchte Zack nicht im Stich lassen.«
»Warum nicht, Daddy? Glaubst du nicht, dass Zack dir nach all den Jahren was schuldet?«
»In meiner Position kann ich keine Forderungen stellen, Rachel, und außerdem stecken wir mitten in der Halbjahresinventur.«
Rachel stieß verärgert die Luft aus. Ihr Vater hätte ohnehin keine Forderungen gestellt; das tat er nie. »Versprich mir wenigstens, Jimmy zu überreden, dass er mitkommt. Ich möchte ihn sehen, Daddy. Er wird uns alle aufmuntern.« Im vergangenen
Jahr hatte ihr der kleine Bruder mit den schiefen Zähnen und den Sommersprossen besonders gefehlt. Für Jimmy war Tante Mary stets die weibliche Version von Gott gewesen, die das Leben ihrer Familie vom Spielfeldrand aus beobachtete.
»Ich versuch’s, Liebes, aber dein Bruder ist einundzwanzig. Ich sage ihm, dass dir sein Kommen wichtig wäre.«
Wenig später legte Rachel, die Worte ihres Vaters – in seiner Position könne er keine Forderungen stellen – im Ohr, auf. Möglicherweise würde sich das schnell ändern, weil Tante Mary ihm so viel hinterlassen hatte, dass er Zack Mitchell die Meinung sagen konnte. In diesem Jahr war der Gewinn gering ausgefallen. Alle glaubten, Tante Mary schwimme in Geld, und in manchen Jahren stimmte das sogar. Doch die Einkünfte hingen vom Wetter, den Märkten sowie den Lohnkosten und anderen Ausgaben ab, und in der Landwirtschaft definierte sich Reichtum oft eher über den Wert des Grundes als über den Kontostand – das wusste ihre Mutter durchaus.
Rachel war klar, dass das Gespräch zwischen ihren Eltern jetzt verlaufen würde wie ihre früheren zu dem Thema: Du wirst schon sehen, William. Wenn Mary den Löffel abgibt, hat es zuvor bestimmt die schlimmste Dürre seit Menschengedenken oder drei Monate Dauerregen oder eine Baumwollüberproduktion oder einen drastischen Anstieg der Energiekosten gegeben – was auch immer, Hauptsache, der Gewinn war gering, so dass für dich nichts zu erben bleibt. Nichts außer dem Scheißland und dem Haus der Tolivers, das sie mit Sicherheit Rachel hinterlässt. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber ich verfluche den Tag, an dem du auf die Idee gekommen bist, sie ein zweites Mal zu Mary mitzunehmen.
Rachel teilte die Überzeugung ihrer Mutter nicht, derzufolge ihre Fahrt nach Howbutker 1966 ihre Leidenschaft für
die Interessen der Tolivers geweckt habe. Sie glaubte vielmehr, dass die Saat schon viel früher gelegt worden war,
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