Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
ausgehen wollte.«
»Was ist damit?«
»Henry sagt, die hat sie nicht mehr um den Hals gehabt, wie sie aus dem Büro von Mister Amos gekommen ist.«
»Sie hat sie vermutlich bei ihm gelassen«, meinte Rachel. »Wusstest du, dass sie heute zu mir fliegen wollte?«
»Ja, hab ich zwischen Tür und Angel mitgekriegt, kurz bevor sie zu Mister Amos in die Kanzlei ist. Ihre kleine Reisetasche stand schon gepackt oben, wie ich ihre Handtasche raufgebracht habe. Davor wusste ich nichts davon.«
»Ich auch nicht.«
Da klingelte es. »Oje, da kommen die ersten Sachen. Die können wir gut gebrauchen bei den vielen hungrigen Mäulern, die wir bald stopfen müssen.«
Als Sassie sich entfernte, dachte Rachel über die Möglichkeit
nach, dass Tante Mary ihren nahenden Tod offenbar geahnt hatte. Der Champagner allein war Indiz genug, denn Tante Mary hatte Rachel einmal anvertraut, dass Alkohol sie an Orte versetze, die sie nicht mehr sehen wolle, die sie vielleicht nur, wenn es zu Ende gehe, noch einmal aufsuchen werde.
Die Perlenkette, die Mary Rachel vermachen wollte, war ein weiteres Zeichen. Es sah Tante Mary ähnlich, sie bei Amos zu lassen, statt sie in den Safe zu legen – wahrscheinlich, damit er sie ihr nach der Verlesung des Testaments als letzten Gruß selbst aushändigte. Aber warum hatte ihn das nicht nachdenklich gestimmt?
Rachel erhob sich müde von dem Stuhl. Es wird sich sicher alles bald aufklären , hatte Amos gesagt. Als Sassie zurückkam, informierte sie sie über seine Arrangements und das geplante Eintreffen ihrer Familie am folgenden Tag. »Ich gehe jetzt hinauf und suche ein Kleid für den Sarg aus, bevor ich meine Sachen auspacke. Dann erledige ich die Telefonate auf Amos’ Liste. Er hat mir den Namen eines Paares gegeben, das dir und Henry unter die Arme greifen kann, Sassie. Die beiden rufe ich als Erste an.«
»Machen Sie sich meinetwegen mal keine Gedanken, Schätzchen. Ich tu lieber was, damit ich nicht ins Grübeln komme.«
Oben fand Rachel die Zimmer ihrer Großtante dunkel vor, die Fensterläden geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Keine tröstende Ahnung von ihr umfing sie, als sie die Tür öffnete. Der Raum wirkte kalt auf sie, trotz der persönlichen Handschrift Tante Marys, die er trug. Ein rosafarbener Satinmorgenmantel, in den sie gern zu einem Mittagsschläfchen geschlüpft war, lag über einem Stuhl, ein dazupassendes Paar offener Pantoffeln lugte unter dem Bett hervor wie ein kleiner Hund. Familienfotos, darunter viele von Rachel, zierten den
Kaminsims, und ein reich verziertes, abgegriffenes Frisierset – ein Hochzeitsgeschenk von Onkel Ollie – schimmerte von der Kommode herüber. Daneben stand die kleine Reisetasche, die Tante Mary für ihren letzten Flug nach Lubbock gepackt hatte.
Rachel war nur selten in diesem Raum gewesen, und wenn, nicht lange. Sie und Tante Mary hatten die gemeinsame Zeit meist in der Bibliothek, in ihrem Büro oder auf der überdachten rückwärtigen Veranda verbracht. Doch einmal, als die Tür zufällig offen stand, war ihr in Tante Marys Zimmer eines der gerahmten Bilder aufgefallen, und sie hatte sich hineingeschlichen und es sich genauer angeschaut. Darauf war ein dunkelhaariger Teenager zu sehen – ihr Vater, hatte Rachel zuerst gedacht. Aber die Toliver-Züge waren zu stark ausgeprägt, und der Kinnbogen des Jungen wies auf eine Charakterstärke hin, die Rachels Vater nicht besaß. Rachel hatte das Foto umgedreht. Matthew mit sechzehn , hatte Tante Mary mit ihrer unverwechselbaren Handschrift vermerkt. Juli 1937. Die Liebe des Lebens, für seinen Vater und mich. Wenig später war der Junge gestorben. Rachel ahnte, dass Tante Mary nach seinem Tod nicht mehr die Alte gewesen war. Wie sonst erklärte sich der Hauch von Traurigkeit, der sie stets umgeben hatte?
Rachel konnte das Bild nirgends finden. Wieder so ein Rätsel. Grün , dachte sie, als sie an den Schrank mit den Spiegeltüren trat. Onkel Ollie hätte Grün gewählt. Rachel suchte ein schlicht geschnittenes Kleid aus kostbarem Stoff heraus, das Tante Mary gefallen hätte, und schob die Pantoffeln, die sie unheimlich anzublinzeln schienen, unters Bett, bevor sie das Zimmer verließ.
SECHSUNDFÜNFZIG
N ach dem Auspacken setzte Rachel sich bedrückt an den Schreibtisch ihrer Großtante in deren Büro, um die Telefonate zu erledigen. Draußen klingelte unablässig der Hausanschluss; Sassie und Henry wechselten sich ab beim Entgegennehmen der Gespräche. Rachel hatte den beiden
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