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Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Titel: Die Erben von Somerset: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leila Meacham
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hübsche Frau mit alabasterfarbenem Teint und großen, glänzenden Augen, deren Bernsteinfarbe ihr Sohn zusammen mit den rotbraunen Haaren und der kleinen, kecken Nase geerbt hatte. Mary hingegen nannte das auffällige Aussehen der Tolivers seit den Tagen der ersten englischen Lancasters ihr Eigen. Es war klar, dass sie nur Vernon Tolivers Tochter sein konnte.
    Mary beobachtete bang, wie ihre Mutter sich von ihrem Stuhl erhob. In ihrem schwarzen Gewand wirkte sie fast wie eine kühle, abweisende Fremde. Dass sie den Schleier gelüftet und die seltsam leuchtenden Augen enthüllt hatte, in denen keine Spur von Trauer mehr zu erkennen war, beunruhigte Mary. Auch sie und Emmitt standen auf.
    »Eine Frage noch, Emmitt, da ich mich mit solchen Dingen nicht auskenne …«
    »Aber natürlich, meine Liebe.« Emmitt verbeugte sich leicht.
    »Die Verfügungen des Testaments … müssen Außenstehende davon erfahren?«
    Emmitt schürzte die Lippen. »Ein Testament ist seiner Natur nach ein öffentliches Dokument, das jeder beim Nachlassgericht einsehen kann. Außerdem …«, der Anwalt räusperte sich, »… wird der gerichtlich bestätigte Text zur Information von Gläubigern in der Zeitung veröffentlicht.«
    »Dann darf also jeder, der sich dafür interessiert, die Einzelheiten nachlesen?«, erkundigte sich Darla.
    Emmitt nickte. Plötzlich schien alle Kraft aus Darla zu weichen. »Hätte Papa verdammt noch mal nicht diskreter sein können?«, rief Miles aus und rückte den Stuhl seiner Mutter weg, um den Weg zur Tür freizumachen.
    »Äh, da wäre noch etwas anderes, das ich Vernon versprochen habe, Darla …«, sagte Emmitt, öffnete die Tür eines Schränkchens hinter sich und holte eine Vase mit einer einzelnen roten Rose heraus. »Die sollte ich dir nach der Verlesung des Testaments geben. Die Vase kannst du natürlich behalten.«
    Darla nahm sie, betrachtete sie lange, stellte sie auf Emmitts Schreibtisch und zog schließlich die Rose heraus. »Nein, danke, auf die Vase verzichte ich«, erklärte sie mit so kühler Stimme, dass sie alle einen Schritt zurückwichen. »Kommt, Kinder.«
    Dann marschierte sie zur Tür und warf die Rose in den Papierkorb.

SECHS
    A uf der Heimfahrt saßen die Tolivers schweigend in ihrem Einspänner, Mary so weit in ihre Ecke geduckt wie möglich, und starrten genauso finster hinaus wie vier Tage zuvor auf dem Weg zu Vernon Tolivers Beisetzung.
    Mary betrachtete Darlas fahles Gesicht. Sie kannte die Bedeutung der Rosen und somit sowohl die der Handlung ihres Vaters als auch die der Reaktion ihrer Mutter. Mary fürchtete, dass Darla ihrem Mann niemals vergeben würde.
    Was hatte er denn getan? Sichergestellt, dass Plantage und Herrenhaus im Besitz der Tolivers verblieben. Bei einem finanziellen Engpass oder einer zweiten Ehe mit einem möglichen Wohnortwechsel hätte ihre Mutter beides verkauft. Und Miles als Erben einzusetzen, hätte zum Verlust von Marys Anspruch geführt. Indem ihr Vater Somerset Mary hinterließ, sicherte er die Plantage den Nachfahren seiner Kinder.
    Warum regten ihre Mutter und Miles sich so auf? Miles würde auch noch später Collegelehrer werden können. Fünf Jahre vergingen schnell. In dieser Zeit würde Mary jede freie Minute nutzen, um alles über die Leitung der Plantage zu lernen, unterstützt von Len Deeter. Er war ein ausgezeichneter Aufseher, ehrlich und fleißig und nicht nur den Tolivers treu ergeben, sondern auch bei den Pächtern angesehen. Was Mary nicht von ihrem Großvater und Vater gelernt hatte, würde sie sich von ihm zeigen lassen. Wahrscheinlich würde Miles gar nicht warten müssen, bis sie einundzwanzig wäre,
sondern könnte bereits nach zwei Jahren seiner Wege gehen, und sie würde ihm die Unterlagen, die von ihm unterschrieben werden mussten, einfach schicken. Bis dahin hätte sie sich als Herrin von Somerset etabliert.
    Am späten Nachmittag suchte Mary ihre Mutter auf, um ihr diese Gedanken vorzutragen. Darla ruhte in dem Zimmer, das sie bis vor Kurzem mit ihrem Mann geteilt hatte, auf einer Chaiselongue, die dichten, rotbraunen Haare nicht mehr zu einer Pompadourfrisur arrangiert, sondern um ihre Schultern ausgebreitet. Die spätnachmittägliche Sonne schien fahl durch die dünnen gelben Vorhänge. Mary fragte sich niedergeschlagen, ob der leuchtend lavendelfarbene Morgenmantel etwas zu bedeuten habe. Keine Spur mehr von dem schwarzen Kleid, dem schwarzen Hut und den zahlreichen Trauergestecken, die ihre Mutter nach der Beisetzung

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