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Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Titel: Die Erben von Somerset: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leila Meacham
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nicht aus den Augen ließ, bis der Zug verschwand. Mary nahm ihren Hut ab und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Lucy Gentrys Gegenwart hatte sie ermüdet.
    Zwei Abende zuvor war es zu einer nervenaufreibenden Szene gekommen, als Lucy aus einem Brief von Miles an Mary erfahren hatte, dass Percy zum Militär gehen würde. Lucy hatte, wie nicht anders zu erwarten, geweint und gejammert, gekreischt und lauthals geflucht, Bücher und Kleidungsstücke durch die Luft geschleudert und schließlich sogar ihren kleinen Teddybären aus dem Fenster geworfen. So etwas hatte Mary noch nie erlebt. Nicht nur die anderen Mädchen vom Stockwerk, sondern auch die Hausmutter, die immer wieder verständnislos den Kopf schüttelte, waren herangeeilt, um Lucys Ausbruch mitzuverfolgen.
    Erst nach einer ganzen Weile war Lucy in einer Ecke des Zimmers zusammengesunken und hatte ihr tränenüberströmtes Gesicht in den Armen vergraben. Die anderen Mädchen waren gegangen, und Mary hatte die Hausmutter beruhigt und ihr geraten, sich schlafen zu legen. Lucy würde die Fassung schon wiedererlangen. Sie habe eine schlimme Nachricht erhalten; dies sei nun einmal ihre Reaktion darauf.
    Erst dann hatte Mary die Arme um Lucy gelegt wie um ein Kind. Durch ihren Flanellbademantel hindurch hatte sich ihr stämmiger kleiner Körper unnatürlich feucht und warm
angefühlt und auch einen leicht unangenehmen Geruch verströmt, als lägen darin ihre ganze Verbitterung und ihr Zorn. Mary hatte sie festgehalten, bis ihr Schluchzen verebbte.
    »W-w-warum hat er sich nicht fürs Erste vom Militärdienst befreien lassen?«, stotterte Lucy, um Luft ringend. »Er hat ein R-r-recht darauf.«
    »Ja, warum haben sie das nicht alle getan?«, antwortete Mary und strich Lucy die feuchten Haare aus der Stirn. »Weil das nun mal nicht ihr Stil ist.«
    Lucy packte Marys Hand. »Er wird nicht sterben!«, rief sie mit fiebrigem Blick aus. »Er kommt wieder nach Hause. Ich schließe einen Pakt mit Gott und verspreche ihm, artig zu sein. Ich weiß , dass ich das schaffe. Ich höre auf …«
    »Mit dem Fluchen?«, fragte Mary grinsend und stellte erleichtert fest, dass ein verlegenes Lächeln auf das Gesicht ihrer Zimmergenossin trat.
    »Das verdammt noch mal auch, wenn’s sein muss.«
    Am folgenden Morgen hatte Mary beim Aufwachen gemerkt, dass Lucy nicht in ihrem Bett lag, auf dem sie einen Zettel mit folgendem Text entdeckte: »Bin in der Kirche. Lucy.«
    Verwundert über die Tiefe von Lucys Emotionen und ein wenig erschrocken über ihre Aufrichtigkeit, hatte Mary das Bett gemacht und den tränennassen Kissenbezug durch einen frischen ersetzt. Wie konnte man so viel für einen Mann empfinden, den man kaum kannte, und sich an die Hoffnung klammern, dass er die eigenen Gefühle erwiderte?
    Lucy Gentry hatte keine Chance bei Percy Warwick, denn die Frau, für die er sich entscheiden würde, wäre schön, intelligent und kultiviert, durch und durch eine Dame. Lucys Derbheit würde ihm mit Sicherheit nicht gefallen. Zwar hatte sie gute Noten und galt als eifrige Schülerin, aber das, was andere als Beweis ihrer Intelligenz interpretierten, durchschaute
Mary als reine Geschicklichkeit. Soweit sie das beurteilen konnte, kultivierte Lucy den Eindruck, sie sei belesen. In Wahrheit jedoch überflog sie Bücher und Schlagzeilen nur und deutete mit ein paar hingeworfenen Bemerkungen an, dass sie über das jeweilige Thema Bescheid wisse. Außerdem hatte Mary Lucy im Verdacht, sich ihre guten Noten mit unrechtmäßigen Mitteln zu verschaffen. Als Schülerassistentin besaß sie Zugang zu Prüfungsplänen, was ihr Marys Ansicht nach half, sich auf Tests immer richtig vorzubereiten.
    Sogar ihre augenscheinliche Armut war geheuchelt. Zwar gehörte Lucy zu den »Stipendienmädchen«, hatte also die erforderlichen Zeugnisse, aber nicht die finanziellen Mittel, Bellington Hall zu besuchen. Doch sie besaß ein kleines Treuhandvermögen von ihrer Mutter, das gereicht hätte, ihre hoffnungslos altmodische Garderobe zu erneuern. Ihre Kleidung schien für eine Art Ideologie zu stehen: Wenn Lucy schon nicht die feinsten Sachen haben konnte, entschied sie sich eben für die schäbigsten. Diesen Gedankengang konnte Mary sogar nachvollziehen. Es handelte sich um den lächerlichen Versuch einer Auflehnung, eher um eine Pose als um eine tatsächliche Aussage, so dass Lucys viktorianische Kleidung sie bei Mitschülerinnen und Personal gleichermaßen beliebt machte.
    Mary tat diese kleinen Mängel

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