Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
verstehen.«
»Nur, wenn du versprichst, dass es nie wieder geschehen wird.«
»Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann.«
Daraufhin hatte sie sich von ihm ins Esszimmer führen lassen, obwohl sie durch seinen Kuss vollkommen aus der Fassung war. Sie ahnte, dass sie diese neue Seite ihrer Persönlichkeit vor Männern verbergen musste, um nicht von ihnen ausgenutzt zu werden. Ich lasse mich nicht mehr von ihm küssen , schwor sie sich – ein Schwur, den sie am Ende selbst nicht halten konnte.
Mary versuchte, die Erinnerung an diese leidenschaftlichen Minuten abzuschütteln, als draußen die ersten weißen Häuser von The Hollows auftauchten. Dass die Siedlung größer geworden war, nahm Mary kaum wahr, als der Zug, langsamer werdend und mit einem schrillen Pfiff, daran vorbeifuhr. Das neue, moderne Gebäude mit der Aufschrift Warwick Lumber
Company bemerkte sie sehr wohl. Ihr fiel ein, dass Miles ihr in einem seiner Briefe von der Ausweitung des Warwick-Firmengeländes und dem Bau eines neuen Verwaltungskomplexes berichtet hatte.
Miles hatte versprochen, sie vom Zug abzuholen, später jedoch nicht geantwortet, als sie ihm Tag und Uhrzeit ihrer Ankunft mitteilte, so dass sie sich fragte, wie sie an Geld für die Fahrkarte kommen sollte, wenn Miles es ihr nicht sandte. Schließlich hatte sie ihm dann ein Telegramm geschickt – ein Luxus, den die Tolivers sich kaum leisten konnten –, um ihn an ihre Heimkehr zu erinnern. Daraufhin hatte er ihr telegrafisch innerhalb einer Woche exakt den benötigten Betrag angewiesen, ohne ein Wort Begleittext. Sie hatte das nicht nur unhöflich gefunden, sondern von da an in Furcht vor ihrem Empfang in Somerset gelebt.
Als wieder ein Pfeifen des Zugs ertönte, setzte Mary ihren Hut vor dem kleinen Spiegel über der Toilette auf. Er war genauso altmodisch wie ihre übrige Kleidung, wenn auch nicht ganz so schlimm wie die von Lucy. Die Damenmode schien sich jede Saison zu verändern, und seit dem Tod ihres Vaters hatten nur sehr wenige neue Stücke den Weg in ihren Schrank gefunden.
Offenbar wusste ganz Howbutker über die finanzielle Lage der Tolivers Bescheid. Kurz nach ihrer Ankunft in Bellington Hall hatte Abel DuMont Mary in einem Brief gefragt, ob sie sich vorstellen könne, seine Kleider als Werbemaßnahme für das Kaufhaus der DuMonts zu tragen. »Deine Figur und Haltung eignen sich bestens für den neuen Stil in der Damenmode«, hatte er erklärt. »Du würdest mir einen wertvollen Dienst erweisen, wenn Du Dich bereit erklärst, Dich als Modell für unsere Kollektion zur Verfügung zu stellen. Selbstverständlich würdest Du alle Kleider und Accessoires als kleines Zeichen meiner Dankbarkeit behalten dürfen.«
Mary hatte die Hand über die erlesenen Stücke gleiten lassen, die mit dem Brief eingetroffen waren, die Schachteln widerstrebend wieder geschlossen und zurückgeschickt. »Herzlichen Dank für Ihren freundlichen Vorschlag«, hatte sie geschrieben, »aber Sie und ich wissen, dass im modebewussten Bellington Hall keine Werbung für Ihre Kleidung nötig ist. Hier kennen alle Ihr Kaufhaus und die Eleganz und Qualität Ihrer Waren. Seien Sie jedoch versichert, dass ich meine Ausstattung – sofern meine Mittel es erlauben – niemals in einem anderen Warenhaus als dem Ihren erwerben werde.«
Obwohl es ihr schwergefallen war, Abels gut gemeintes Angebot auszuschlagen, konnte sie sicher sein, dass er ihre Reaktion begriff, denn sie musste es als Bruch des stillschweigenden Übereinkommens interpretieren, das seit der Gründung von Howbutker zwischen ihren Familien existierte.
Als sie ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel betrachtete, überlegte sie, ob es sich in dem Jahr ihrer Abwesenheit verändert hatte. Richard hatte ihr die vollkommene Symmetrie ihrer Züge bewusst gemacht, indem er an ihrem letzten gemeinsamen Abend den Finger von ihrem Haaransatz zu ihrem Kinngrübchen gleiten ließ. »Siehst du? Alles auf dieser Seite …« Er küsste ihre linke Wange. »… findet seine Entsprechung auf jener.« Dann küsste er auch die rechte und wölbte die Hände um ihr Gesicht, um sie zu sich heranzuziehen und sie auf den Mund zu küssen. Doch sie erstarrte und wich zurück.
»Nein, Richard.«
Seine dunklen Augen nahmen einen verdrießlichen Ausdruck an. »Warum nicht?«
»Weil es keinen Sinn hat.«
Er runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Du weißt, wieso. Ich habe es dir oft genug erklärt.«
»Somerset?« Er verzog das Gesicht. »Ich dachte, den Rivalen
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