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Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)

Titel: Die Erben von Somerset: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leila Meacham
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meint und es ihnen vergönnt, Nachkommen in die Welt zu setzen. Was ich über die Kämpfe in Europa gehört habe, lässt allerdings nicht darauf schließen. Sollten diese jungen Männer nicht zurückkommen …«, die Schulleiterin hob die Hand mit gespielter Bestürzung an die Wange, »… wird es für Sie keine sonderlich große Auswahl mehr geben, nicht wahr?«
    Mary spürte, wie sie blass wurde. Die Bilder, die sie verfolgten,
seit sie wusste, dass die Jungs sich zum Militär gemeldet hatten, tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Sie sah ihre blutverschmierten Leichen auf irgendeinem gottverlassenen Schlachtfeld liegen, Miles mit ausgebreiteten Armen und Beinen wie eine Vogelscheuche, Percys Blondschopf für immer reglos, Ollies Zwinkern auf ewig verschwunden.
    Mary öffnete ihre kleine, perlengeschmückte Handtasche mit Schildpattrahmen, eine ihrer letzten Erwerbungen aus dem Kaufhaus der DuMonts. »Hier ist der Schlüssel zu meinem Zimmer«, sagte sie ohne das geringste Bedauern. »Das wär’s dann, glaube ich, Miss Peabody. Ich möchte meinen Zug nicht verpassen.«
    Mary erwartete, zurückgerufen zu werden, als sie aus dem Zimmer marschierte. Es hätte der alten Hexe gleichgesehen, sie mit einem fadenscheinigen Grund zurückzuhalten – ein noch zu zahlender Betrag, die Begleichung eines angeblichen Schadens, ein verlorengegangenes Buch. Doch offensichtlich war die Schulleiterin genauso froh darüber, dass Mary Bellington Hall verließ, wie diese selbst, und so floh sie ungehindert in Richtung Stufen und Freiheit. Am Fuß der Treppe wartete der Pedell Samuel auf sie und begrüßte sie mit einem goldzahnigen Grinsen. »Ich weiß, dass Sie schnell hier wegwollen, Miss Mary, und hab eine Droschke bestellt. Wie lang waren Sie nicht mehr zu Hause?«
    »Zu lange, Samuel.« Mary reichte ihm mit dankbarem Lächeln ein Fünfcentstück. »Haben Sie Miss Lucy gesehen?«
    »Sie ist oben auf dem Hügel, seit ungefähr zwanzig Minuten.«
    »Auf dem Hügel?«, rief Mary erstaunt aus. »Was will sie denn ausgerechnet jetzt dort?« Der »Hügel« war das Postamt der Schule und wurde so genannt, weil es auf einer etwas entfernten Anhöhe lag. Lucy erhielt nie eigene Post, bestand jedoch jedes Mal darauf, Mary zu begleiten, wenn diese in
ihrem Fach nachsah, ob ein Brief von Percy gekommen war.
    Da rumpelte eine Kutsche durch das breite schmiedeeiserne Tor. »Ihre Droschke, Miss Mary«, verkündete Samuel, und jeglicher Gedanke an Lucy verschwand in dem Staub, den die Räder aufwirbelten.
    »Gott sei Dank!«, sagte Mary. Samuel lud ihr Gepäck auf. Als er ihr gerade hinaufhelfen wollte, rief eine vertraute Stimme: »Mary! Mary! Samuel, halten Sie die Kutsche auf!«
    »Miss Lucy«, meinte Samuel.
    »Tja, leider«, seufzte Mary.
    Als sie das Mädchen in dem altmodischen Kleid mit gerafften Röcken auf sich zulaufen sah, spürte sie zuerst kurz Verärgerung, dann wie so oft Schuldgefühle gegenüber Lucy Gentry. Verärgerung, weil Lucy sich bereits am Tag ihrer Ankunft in Bellington Hall an sie geheftet hatte wie eine Zecke, und Schuldgefühle, weil sie, abgesehen von Amanda, die einzige erträgliche Schulkameradin war. Mary wandte sich Lucy zu. »Was machst du denn jetzt im Postamt, wenn du genau weißt, dass ich meinen Zug nicht verpassen möchte?«
    »Das hier holen.« Lucy wedelte mit einem Umschlag vor Marys Nase herum. »Steig ruhig ein. Ich begleite dich. Samuel, sag doch bitte Mr Jacobson, dass der Milchwagen am Bahnhof vorbeifahren und mich abholen soll, ja?«
    »Miss Peabody sieht das aber nicht gern«, wandte Samuel ein.
    »Na und.« Lucy schob Mary in die Kutsche und raffte aufs Neue die Röcke, um ihr hinterherzuklettern.
    Unwillig machte Mary Platz für ihre Zimmergenossin und deren weite Kleidung. »Was ist das?«, fragte sie dann und deutete auf den Umschlag.
    Lucy holte mit großer Geste einen gefalteten Brief heraus. »Die Bestätigung, dass ich die Stelle kriege. Neben dir sitzt
die frisch gebackene Französischlehrerin von Mary Harden Baylor in Belton, Texas.«
    Mary biss sich auf die Unterlippe, um ihren Verdruss darüber zu verbergen, dass Lucy die Zusage für die Stelle tatsächlich bekommen hatte. Belton befand sich mit dem Zug nur eine halbe Tagesreise von Howbutker entfernt, weshalb Lucy zu einer Last werden konnte. Sie würde erwarten, dass Mary sie an den Wochenenden bei sich in der Houston Avenue beherbergte, obwohl Mary genug damit zu tun hätte, in Somerset wieder Ordnung zu schaffen und sich um

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