Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
hinweg aufrechtzuerhalten. In den wenigen Schreiben, die tatsächlich aus Europa eintrafen, beklagten sich die Soldaten über den unzureichenden Postdienst, und die Familien, die die Briefe untereinander weiterreichten, erahnten die Einsamkeit ihrer Söhne zwischen den spöttischen Zeilen.
Beatrice Warwick, die es nicht übers Herz brachte, Lucy diesen Wunsch abzuschlagen, hatte sie jeden Brief ihres Sohnes lesen lassen. Marys frühere Zimmergenossin hatte sich mittlerweile häuslich in Mary Harden Baylor eingerichtet und Howbutker zahlreiche Besuche abgestattet, wo es ihr
gelungen war, sich bei den Warwicks so weit einzuschmeicheln, dass sie sie in ihrem Gästezimmer unterbrachten. Diese erzwungene Gastfreundschaft war ihr immer noch lieber als deren gänzlicher Mangel in dem tristen Herrenhaus der Tolivers am anderen Ende der Straße.
Natürlich war sie auch heute hier, dachte Mary ein wenig verärgert, als sie in Richtung Lucy blickte. Sie wirkte schlanker und modischer als früher und trug ein hübsches malvenfarbenes Kleid, dessen Schnitt und Kürze ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachten. Erst ein paar Minuten zuvor war sie ans Fenster des Bahnwärterhäuschens getreten, um ihr Aussehen zu überprüfen. Mein Gott, wie dieses Mädchen es doch immer wieder schaffte, sich überall einzuschleichen! Von der Köchin der Warwicks hatte Mary erfahren, dass Beatrice, eine achtunggebietende Frau, die sich nicht leicht ausmanövrieren ließ, sich der lästigen Lucy kaum noch zu erwehren wusste.
Früher am Tag, als Percys Eltern Mary in ihrem glänzenden neuen Packard – Lucy herausgeputzt auf dem Rücksitz – abgeholt hatten, war deren frühere Zimmergenossin sichtlich erfreut gewesen, Mary in ihrem abgetragenen grünen Serge-Kostüm zu erblicken. »Du bist wunderschön!«, hatte sie ausgerufen. »Das Kostüm sehe ich immer wieder gern an dir!«
»Wie Percy«, hatte Beatrice vom Vordersitz aus ergänzt. »Wie aufmerksam von dir, etwas anzuziehen, das er in guter Erinnerung hat, Mary Lamb. So vieles andere hier hat sich seit dem Weggehen der Jungs verändert.«
Lucy war verstummt. Ihr Schmollen hatte Mary verraten, dass sie die Rüge durchaus bemerkte. Mary hatte Beatrice dankbar angesehen, weil sie wusste, dass diese sie lieber mochte und höher schätzte als ihre eigene Mutter. Sie würde es nie zulassen, dass jemand, der ihr nahestand, arrogant
behandelt wurde, am allerwenigsten von einer Außenseiterin, deren Absichten ihrem Sohn gegenüber auf der Hand lagen.
Mary betrachtete sie voller Zuneigung, wie sie kerzengerade neben ihrem Mann saß – Kostüm, Handschuhe und Hut aus teurem schwarzem Tuch. An dem Tag, als die Jungs in den Krieg gezogen waren, hatte sie begonnen, Trauer zu tragen, wie alle im Ort es nannten. Nicht deshalb, weil sie nicht an die Rückkehr der Jungs glaube, sagte sie, sondern aus Protest gegen den Krieg ganz allgemein und gegen die Dummheit von Ländern, mittels barbarischer Akte Differenzen zu regeln. Sie trage Schwarz, erklärte sie, für all jene Söhne, denen es nicht vergönnt sei, wieder nach Hause zu kommen.
Marys Blick wanderte von Lucy zu Abel DuMont. Seinem Gesichtsausdruck sah sie an, dass Ollies Vater, seit dem zehnten Lebensjahr seines Sohnes Witwer, sich vorstellte, wie dieser den Zug auf Krücken verließ. Abel hatte bereits Termine mit Chirurgen in Dallas vereinbart, die Ollies Bein so weit wie möglich wieder herstellen sollten. Voller Mitleid hakte Mary sich bei Abel unter. Die Fältchen um seine Augen wurden tiefer, und er tätschelte ihre Hand, deren Schwielen Handschuhe verbargen. Hoffentlich, dachte Mary, verzieh er ihr, dass sie nicht das wunderschöne Kleid mit dem dazupassenden Umhang trug, das zu Hause im Schrank hing und das sie bei einer Modenschau des DuMont Department Store vorgeführt hatte. Alle jungen Frauen der Stadt, die über den Laufsteg gegangen waren, hatten die gezeigten Kleider als Geschenk erhalten. Mary war sicher, dass Abel diese Modenschau ihr zuliebe veranstaltet hatte, um ihr eine neue Ausstattung für die Heimkehr der Jungs zukommen lassen zu können. Sie wusste die Geste zu würdigen, aber so tief waren die Tolivers noch nicht gesunken, dass sie wohltätige Gaben annehmen mussten.
Da erklang aus der Ferne das lang ersehnte Pfeifen des Zugs. »Ich hör ihn!«, rief jemand aus, und die Wartenden traten näher an die Bahnsteigkante.
Mary fürchtete fast, das Herz könnte ihr aus dem Leib springen, als sich in der Ferne eine schmale
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