Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
kicherte. »Quatsch! Stolz ist eine Fußfessel, die dich an einem Ort festhält und daran hindert, über den nächsten Berg zu schauen. Fass dich mal lieber an die eigene Nase. Möglicherweise wird der Stolz dir selber noch zum Verhängnis.«
»Da sind sie!«
Als der Zug langsamer werdend in den Bahnhof einfuhr, reckten alle die Hälse. Abel, der seinen Gehstock fester umfasste, richtete sich kerzengerade auf. Mary spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Jeremy Warwick weinte schon, und Beatrice zog ein riesiges spitzenverziertes Taschentuch aus dem schwarzen Ärmel ihres Kleids und hielt es an den
Mund. Der Leiter der Band hob den Taktstock, und der Bahnhofsvorsteher stellte sich mit geschwellter Brust an die Stelle, an der der Zug halten sollte.
»Ich seh sie!«, rief ein Mann aus, der das Gleis ein Stück weit hinuntergegangen war. Mary erkannte ihn als einen Farmer, der seinen ältesten Sohn in Belleau Woods verloren hatte. Er riss sich die Mütze vom Kopf und begann den Passagieren des Zugs zuzuwinken und zuzurufen, die durch die Fenster herausschauten. Unvermittelt sehnte Mary sich danach, ihre Mutter neben sich zu haben, aber die lag erschöpft zu Hause im Bett. Ihr langer Kampf gegen den Alkohol war endlich vorüber, doch der Sieg möglicherweise um einen zu hohen Preis errungen. Letztlich konnte nur die Zeit erweisen, ob der Lebenswille ihrer Mutter stark genug wäre. Vielleicht kehrte Miles noch rechtzeitig zurück, um sie zu retten, und sie würden wieder eine Familie werden.
Lucy kreischte Mary ins Ohr, als der Zug quietschend zum Stillstand kam. Die Wartenden begannen sofort, die offenen Fenster nach vertrauten Gesichtern und Uniformen abzusuchen, und der Bahnhofsvorsteher sprang an Bord.
»Wieso brauchen sie so lange?«, fragte Lucy.
»Wahrscheinlich warten sie auf dem Gang, bis sie aussteigen können«, antwortete Beatrice.
»Vielleicht warnt Ben die Jungs auch vor den Menschenmassen hier«, mutmaßte Jeremy mit einem Blick auf den im Zug verschwindenden Bahnhofsvorsteher.
»Oder mein Sohn braucht Hilfe«, bemerkte Abel. »Der Zielbahnhof wird telegrafisch über Fahrgäste mit Behinderungen informiert.«
»Davon hätte Ben was erwähnt«, sagte Beatrice.
»Wo bleiben sie bloß?«, jammerte Lucy, und die Wartenden begannen allmählich, unruhig zu werden.
Da stieg der Bahnhofsvorsteher wieder aus und brachte die
Menge durch ein Heben der Hand zum Verstummen. »Alle mal herhören: Hauptmann Toliver, Hauptmann Warwick und Hauptmann DuMont kommen gleich raus. Bis auf die jeweiligen Familien bitte ich alle, ein paar Schritte zurückzutreten. Vergesst nicht, dass auch noch andere Fahrgäste an Bord sind, die zum Bahnhofsgebäude wollen.«
»Mein Gott, Ben!«, herrschte Beatrice ihn an. »Hör auf mit dem Gefasel und sorg dafür, dass die Jungs aussteigen!«
Der Bahnhofsvorsteher verbeugte sich und wandte sich dem Zug zu. »Meine Herren!«, rief er hinein.
Alle jubelten, als Percy auftauchte. Dann begann die Band zu spielen, und die Warwicks und Lucy bewegten sich nach vorn, doch er schien über ihre Köpfe hinweg nach jemand anders Ausschau zu halten. Als er Mary entdeckte, die zögernd die Hand hob, ruhte sein Blick einen langen Moment auf ihr, in dem ihr vor Freude fast das Herz stehen blieb, bevor er die Stufen hinunterging und hinter Beatrices riesigem Hut und den breiten Schultern seines Vaters verschwand. Die arme, aufgeregt auf und ab hüpfende Lucy versuchte verzweifelt, sich nach vorn zu drängen.
Mary spürte Freude und Erleichterung in sich aufsteigen. Er lebte … Es ging ihm gut … Er war gesund. Und zu Hause.
Wenig später erschien Ollie mit seinem gewohnten strahlenden Lächeln. Mary schlug die Hand vor den Mund. Abel neben ihr erstarrte, und ein erstickter Schrei entrang sich seiner Brust. »Gütiger Himmel. Sie haben ihm das Bein abgenommen.«
DREIZEHN
N un trat Miles heraus, blinzelnd wie ein Mann, der das Licht der Sonne zum ersten Mal seit langem wiedersieht. Mary und Abel blickten ihn stumm an. Ollie winkte der plötzlich verstummenden Menge mit einer Krücke zu und bewegte sich dann geschickt und mit seiner üblichen Fröhlichkeit die Stufen hinunter. Das rechte Bein seiner Uniformhose war hochgeklappt und auf Kniehöhe festgesteckt, so dass der obere Teil schlaff herunterhing wie ein leerer Blasebalg.
Miles folgte ihm, erschreckend schmal und leichenblass, mit Gepäck beladen und deshalb voll und ganz auf die Stufen konzentriert. Abel streckte Mary mit
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