Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
Mr Waithe, doch wie werden Sie sich fühlen, wenn ich recht behalte und Sie sich täuschen?«
»Schrecklich.« Emmitt seufzte. »Aber längst nicht so schrecklich, wie wenn ich recht hätte und du dich täuschen würdest. Wenn du tatsächlich recht hast, kann ich immerhin sagen, die Vernunft hätte mich bewogen, deine letzten Rücklagen nicht freizugeben. Das kann ich nicht, wenn ich recht habe.«
»Papa wäre meiner Meinung«, erklärte Mary, den Blick auf den Anwalt gerichtet. »Er würde diese Herausforderung annehmen. Und eines weiß ich: Falls die Bank of Boston die Plantage kauft und meine Befürchtungen zutreffen, wird es mir sehr schwerfallen, Ihnen zu verzeihen.«
Emmitt schürzte die Lippen. Sein nachdenklicher Ausdruck ließ sie vermuten, dass sie die magischen Worte gefunden hatte: Papa würde diese Herausforderung annehmen.
Ein paar Sekunden später trat ein nachdenkliches Lächeln auf seine Lippen. »Du bist ihm so ähnlich, Mary Toliver, ist dir das klar? Manchmal habe ich fast das Gefühl, mit ihm selber zu reden, wenn du hier auf diesem Stuhl sitzt. Ja, dein Vater wäre das Risiko eingegangen. Und genau wie dich hätte ich auch ihn davon abzubringen versucht.«
»Wäre es Ihnen gelungen?«
»Nein.«
Der Anwalt beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Du hast
bis Ende der Woche Zeit, Jarvis deinen Beschluss mitzuteilen, sagst du? Lassen wir uns beide noch ein paar Tage zum Nachdenken. Ich teile dir meine Entscheidung bis Freitag mit; dann kannst du dich mit Mr Ledbetter in Verbindung setzen.« Emmitt musterte sie lange über den Rand seiner Brille hinweg. »Noch eines, Miss Mary Toliver: Falls meine Antwort ja lautet und meine Befürchtungen sich bewahrheiten, wird es mir sehr schwerfallen, mir zu verzeihen.«
NEUNZEHN
A ls Mary zu Hause ins Arbeitszimmer gehen wollte, um noch einmal die Zahlen in den Büchern zu überschlagen, hörte sie ihre Mutter aus dem Salon rufen: »Mary? Bist du das? Komm doch mal her.«
Ungläubig näherte sie sich der offenen Tür zu dem Raum, in dem ihre Mutter voll bekleidet in ihrem Lieblingsschaukelstuhl vor der Verandatür saß, Sassie nicht weit von ihr entfernt auf dem Sofa. Sassies Blick erinnerte Mary daran, dass es vier Uhr nachmittags und sie viel später heimgekommen war als versprochen. Sie hätte Sassie ablösen sollen, damit sie auf den Markt gehen konnte, worauf sie sich immer freute, weil das ihre einzige Möglichkeit war, einmal aus dem Haus zu kommen.
»Sassie hätte gern das Essen zubereitet«, rügte Darla Mary in dem Tonfall, den diese aus ihren Kindertagen kannte. Damals hatte sie Angst davor gehabt, jetzt begrüßte sie ihn als Hinweis darauf, dass Darla sich wieder ihrem früheren Zustand annäherte.
Darla musterte Marys Bluse und den Reitrock kritisch. »Das ist doch nicht deine übliche Arbeitskleidung, oder? Wo bist du denn gewesen?«
»Ich … musste etwas im Ort erledigen. Tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Sassie, du kannst dich morgen früh in Ruhe auf dem Markt umschauen, während ich mich ums Mittagessen kümmere. Mama, wie schön, dich wieder hier unten zu sehen.«
»Du kannst jetzt gehen, Sassie«, sagte Darla. »Und pass auf, dass das Maisbrot nicht anbrennt.«
»Ja, Ma’am«, meinte Sassie und warf Mary beim Verlassen des Raums einen leidgeprüften Blick zu. Mary rückte unterdessen einen Stuhl zu ihrer Mutter heran, die ihre Brille trug und die Howbutker Gazette auf dem Schoß hatte. Es war länger als vier Jahre her, dass sie das letzte Mal eine Zeitung gelesen hatte. Im nachmittäglichen Licht fiel Mary wieder einmal auf, wie sehr die einstmals blühende Schönheit ihrer Mutter verblasst war. Darla hatte zu den Ersten ihrer Generation gehört, die Rouge benutzten, das nun ihre eingefallenen Wangen betonte. Ihre Haare, früher dicht und glänzend, hatten Glanz und Fülle verloren und lagen matt und fein wie Daunen auf ihren knochigen Schultern, deren Knochen sich durch ihr Tuch hindurch abzeichneten.
»Seit deiner letzten Lektüre der Gazette hat sich viel verändert im Ort«, bemerkte Mary.
»Ja, es ist wie eine völlig neue Welt!« Darla hielt Mary die aufgeschlagene Zeitung hin. »Sieh dir bloß mal die Mode an, für die Abel Werbung macht. Röcke bis zu den Waden! Und angeblich gibt’s in Howbutker jetzt ein Lichtspielhaus.«
»Ja. Soweit ich weiß, ist es sehr gut besucht«, sagte Mary lächelnd. »Ich selber bin allerdings noch nicht dort gewesen. Möchtest du mal am Abend hin?«
»Noch nicht. Ich muss
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