Die Erbin
Inzwischen waren sämtliche anderen Gespräche im Coffee Shop verstummt. »Nach dem Gesetz vertrete ich Mr. Seth Hubbard, der natürlich nicht mehr unter uns weilt, aber mich kurz vor seinem Tod zum Anwalt für seinen Nachlass bestimmt hat«, erklärte er. »Meine Aufgabe besteht darin, seine Wünsche beziehungsweise jetzt die Bestimmungen seines Testaments zu erfüllen und seinen Nachlass zu schützen. Mein Anwaltsvertrag wurde mit dem Nachlassverwalter geschlossen und niemandem sonst. Nicht mit Lettie Lang und ganz bestimmt nicht mit ihrem Mann. Ehrlich gesagt kann ich den Mann nicht ausstehen. Und vergesst bloß nicht, dass er diese Clowns aus Memphis angeheuert hat, die versucht haben, den Fall zu stehlen.«
»Das versuche ich denen schon die ganze Zeit zu sagen«, sprang Dell ihm bei, während sie Toast und Maisbrei vor Jake hin stellte.
»Wer ist denn jetzt sein Anwalt?«, wollte Nugent wissen, der die Kellnerin ignorierte.
»Ich habe keine Ahnung. Vermutlich wird ihm das Gericht einen Pflichtverteidiger besorgen. Ich bezweifle, dass Simeon sich einen Anwalt leisten kann.«
»Was wird er kriegen, Jake?«, wollte Roy Kern wissen, ein Klempner, der einige Arbeiten in Jakes abgebranntem Haus durchgeführt hatte.
»Eine Menge. Fahrlässige Tötung im Straßenverkehr in zwei Fällen mit jeweils fünf bis fünfundzwanzig Jahren. Ich weiß natürlich nicht, wie es laufen wird, aber Richter Noose ist in diesen Fällen sehr streng. Es würde mich nicht überraschen, wenn Simeon zwanzig oder dreißig Jahre bekäme.«
»Und warum nicht die Todesstrafe?«, erkundigte sich Nugent.
»Die Todesstrafe kann hier nicht verhängt werden, weil …«
»Und warum nicht? Schließlich geht es um zwei tote Jungs.«
»Es war kein Vorsatz dabei, er hat sie nicht mutwillig getötet. Für die Todesstrafe muss ein Mord plus noch etwas vorliegen: Mord plus Vergewaltigung, Mord plus Raub, Mord plus Entführung. Das ist hier nicht der Fall.«
Das kam bei den Gästen nicht gut an. Wenn die Gang im Coffee Shop in Rage geriet, ähnelte sie den Anfängen eines Lynchmobs, aber nach dem Frühstück beruhigte sie sich stets wieder. Jake spritzte Tabasco auf seinen Maisbrei und fing an, seinen Toast zu buttern.
»Können die Rostons etwas von dem Geld bekommen?«
Das Geld? Als wäre Seth Hubbards Nachlass jetzt frei ver fügbar und könnte für alle möglichen Zwecke verwendet werden.
Jake legte die Gabel weg und sah Nugent an. Er rief sich in Erinnerung, dass dies seine Leute waren, seine Mandanten und Freunde, und dass sie sich nur vergewissern wollten. Sie hatten keine Ahnung von juristischen Finessen und den gesetzlichen Bestimmungen einer Testamentseröffnung und machten sich Sorgen darüber, dass hier vielleicht Unrecht drohte. »Nein«, erwiderte Jake gelassen, »auf keinen Fall. Es wird Monate, vermutlich sogar Jahre dauern, bis Mr. Hubbards Geld ausgezahlt wird, und zurzeit wissen wir im Grunde genommen noch gar nicht, wer es bekommen wird. Das wird der Prozess klären, aber das Urteil wird mit Sicherheit angefochten werden. Und selbst wenn Lettie das ganze Geld beziehungsweise neunzig Prozent davon bekommt, sieht ihr Mann keinen Cent davon. Er wird im Gefängnis sitzen. Und die Rostons werden kein Recht haben, Lettie zu verklagen.«
Jake biss in seinen Toast und beeilte sich zu kauen. Er wollte auf die anderen einwirken und keine Zeit verschwenden, nur weil er den Mund voll hatte.
»Er wird nicht auf Kaution freigelassen werden, oder?«, fragte Bill West.
»Das bezweifle ich. Der Richter wird eine Kaution festlegen, aber sie wird vermutlich zu hoch sein. Meiner Einschätzung nach wird er im Gefängnis bleiben, bis er eine Absprache mit dem Staatsanwalt trifft und sich schuldig bekennt oder der Prozess beginnt.«
»Was könnte er zu seiner Verteidigung vorbringen?«
Jake schüttelte den Kopf, als könnte es in einem solchen Fall keine strafmildernden Umstände geben. »Er war betrunken, und es gibt einen Augenzeugen, stimmt’s, Marshall?«
»Genau. Der Mann hat alles gesehen.«
»Ich gehe von einer Absprache mit dem Staatsanwalt und einer langen Haftstrafe aus«, fuhr Jake fort.
»Hat er nicht einen Jungen im Gefängnis?«, fragte Nugent.
»Stimmt. Marvis.«
»Dann kann er sich die Zelle mit seinem Sohn teilen, sich derselben Gang anschließen und eine Menge Spaß in Parchman haben«, sagte Nugent, was ihm einige Lacher einbrachte. Auch Jake lachte, dann machte er sich über sein Frühstück her. Er war froh, dass
Weitere Kostenlose Bücher