Die Erbin
Juneau gewesen? Ziemlich spektakuläre Gegend, mit Bergen auf drei Seiten und dem Meer direkt vor der Tür. Die Stadt ist nicht sehr groß und nicht sehr hübsch, aber was für eine Landschaft. Es gefällt mir hier. Ich glaube, ich werde rausfahren und mir einiges ansehen.«
»Glauben Sie, dass er es ist?«
»Ich weiß inzwischen noch weniger als bei meiner Abreise aus Clanton. Das Ganze ist ein Rätsel. Der Polizei ist es eigentlich egal, wer er ist oder was mit ihm passiert. Sie haben gerade damit zu tun, einen Drogenring auffliegen zu lassen. Jake, mir gefällt es hier wirklich. Ich habe es überhaupt nicht eilig zurückzukommen. Im Gerichtssaal brauchen Sie mich ja sowieso nicht.«
Jake war der gleichen Meinung, sagte aber nichts.
»Hier ist es schön kühl und überhaupt nicht schwül. Stellen Sie sich das mal vor, ein Ort ohne hohe Luftfeuchtigkeit. Ja, hier gefällt es mir. Ich werde Lonny im Auge behalten und mit ihm plaudern, wenn sie mich zu ihm lassen.«
»Lucien, sind Sie nüchtern?«
»Morgens bin ich immer nüchtern. Probleme bekomme ich erst ab zehn Uhr abends.«
»Bleiben Sie in Verbindung.«
»Alles klar, Jake. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Sie brachten Hanna zu Jakes Eltern in Karaway und fuhren eine Stunde nach Oxford, wo sie eine Tour über den Campus der Ole Miss machten und in Erinnerungen an ein anderes Leben schwelgten. Es war ein warmer, klarer Frühlingstag, und die Studenten trugen Shorts und gingen barfuß. Sie warfen Frisbees über die Rasenflächen, holten Bierdosen aus Kühlboxen und ge nossen die Sonne, die gerade am Verschwinden war. Jake war fünfunddreißig, Carla einunddreißig, und ihre Collegezeit schien noch gar nicht so lange zurückzuliegen, gleichzeitig aber ewig her zu sein.
Wie immer empfanden sie bei einem Spaziergang über den Campus Sehnsucht nach Vergangenem. Und Fassungslosigkeit. Waren sie wirklich in den Dreißigern? Es kam ihnen so vor, als wären sie letzten Monat noch Studenten gewesen. Jake vermied es, in die Nähe der juristischen Fakultät zu kommen, dieser Albtraum war noch zu frisch. Als es zu dämmern begann, fuhren sie zum Oxford Square und parkten am Gericht. Sie hielten sich eine Stunde lang in der Buchhandlung auf, tranken auf dem Balkon oben Kaffee und gingen dann zum Abendessen in den Downtown Grill, das teuerste Restaurant im Umkreis von hundertzwanzig Kilometern. Da sie mit Geld um sich werfen konnten, bestellte Jake eine Flasche Bordeaux für sechzig Dollar.
Als sie wieder in Clanton waren, war es fast Mitternacht. Sie machten die übliche Runde und fuhren langsam an Hocutt House vorbei. In einigen Zimmern brannte Licht, und das schöne alte Anwesen schien sie heranzuwinken. In der Einfahrt parkte Willie Traynors Spitfire mit Nummernschildern aus Tennessee. »Sehen wir mal nach, was Willie macht«, sagte Jake, der immer noch ein bisschen aufgekratzt vom Wein war.
»Nein, Jake! Dafür ist es schon zu spät«, protestierte Carla.
»Komm schon. Willie hat bestimmt nichts dagegen.« Er hatte den Saab angehalten und schaltete in den Rückwärtsgang.
»Jake, das ist so was von unhöflich.«
»Bei jedem anderen, ja, aber nicht bei Willie. Außerdem will er, dass wir sein Haus kaufen.« Jake parkte hinter dem Spitfire.
»Und wenn er Besuch hat?«
»Dann kriegt er jetzt noch mehr Besuch. Komm mit.«
Widerstrebend stieg Carla aus. Sie blieben kurz auf dem schma len Fußweg stehen und sahen sich die großzügige Veranda vor dem Haus an. Der schwere Duft von Strauchpfingstrosen und Schwertlilien lag in der Luft. Rosafarbene und weiße Azaleen leuchteten auf den Blumenbeeten.
»Wir sollten es kaufen«, sagte Jake.
»Wir können es uns nicht leisten«, erwiderte sie.
Sie betraten die Veranda, läuteten und hörten Billie Holiday im Hintergrund. Willie kam zur Tür, in Jeans und T-Shirt, und öffnete mit einem breiten Grinsen. »Sieh an, sieh an«, sagte er, »wenn das nicht die neuen Besitzer sind.«
»Wir waren gerade in der Gegend und haben Durst bekommen«, erwiderte Jake.
»Ich hoffe, wir stören nicht«, sagte Carla etwas verlegen.
»Überhaupt nicht. Kommen Sie rein.« Willie winkte sie ins Haus und führte sie ins Wohnzimmer, wo eine Flasche Weißwein in einem Kühler stand. Sie war fast leer, und Willie holte schnell eine neue und entkorkte sie. Dabei erklärte er, dass er in der Stadt sei, um über den Prozess zu berichten. Sein neuestes Projekt sei ein monatlich erscheinendes Magazin und der Kultur in den Südstaaten gewidmet.
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