Die Erbin
weg. Ich habe meine eigenen Fälle zu verlieren.«
»In Ordnung. Aber zur Auswahl der Geschworenen kommst du.« Jake wusste genau, dass Harry Rex sich nur wenig von dem Geschehen im Gerichtssaal entgehen lassen würde und sich jeden Abend, wenn sie Sandwichs und Pizza im Konferenzraum aßen, dazusetzen und mit ihnen darüber streiten würde, was schiefgelaufen war und was am nächsten Tag alles passieren könnte. Er würde jeden Schritt von Jake im Nachhinein zer pflücken, Wade Lanier mit vernichtender Kritik überziehen, die für sie nachteiligen Entscheidungen Richter Atlees verfluchen, stets und ständig Ratschläge erteilen (ungefragt natürlich), die ganze Zeit darüber reden, dass sie gerade dabei waren, einen Fall zu verlieren, der nicht zu gewinnen war, und manchmal so unerträglich sein, dass Jake ihm am liebsten etwas an den Kopf geworfen hätte. Aber Harry Rex irrte sich selten. Er kannte das Gesetz und dessen Fallstricke. Er las Menschen, wie andere Zeitschriften lasen. Ohne dass die Geschworenen es bemerkten, würde er sie dabei beobachten, wie sie Jake beobachteten. Und sein Rat würde unbezahlbar sein.
Trotz Seth Hubbards unmissverständlichem Befehl, dass kein anderer Anwalt in Ford County von seinem Nachlass profitieren dürfe, war Jake fest entschlossen, ein Honorar in die Richtung von Harry Rex zu schleusen. Wenn Seth Hubbard wollte, dass sein im letzten Moment mit der Hand geschriebenes Testament allen Anfechtungen standhielt, brauchten sie Harry Rex Vonner, egal, ob es dem Erblasser gefiel oder nicht.
Als das Telefon auf Jakes Schreibtisch zu klingeln begann, igno rierte er es. »Warum geht hier eigentlich keiner mehr ans Tele fon? Ich habe diese Woche zehnmal angerufen und bin nie durch gekommen«, beschwerte sich Harry Rex.
»Portia ist im Gericht. Ich muss arbeiten. Lucien geht nicht ans Telefon.«
»Denk doch mal daran, wie viele Verkehrsunfälle, Scheidungen und Ladendiebstähle dir entgehen. Das ganze menschliche Elend dieser Welt versucht verzweifelt, dich zu erreichen.«
»Ich würde sagen, wir haben im Moment genug zu tun.«
»Hast du schon was von Lucien gehört?«
»Heute Morgen noch nicht, aber es ist ja erst sechs Uhr in Alaska. So früh ist er vermutlich noch nicht auf.«
»Vermutlich geht er gerade ins Bett. Jake, du bist ein Idiot, weil du Lucien auf eine Geschäftsreise geschickt hast. Der Mann besäuft sich doch schon zwischen hier und seinem Haus. Wenn er unterwegs ist, in Flughafen-Lounges, Hotelbars, egal wo, wird er sich zu Tode trinken.«
»Er hält sich zurück. Er hat vor, für das Anwaltsexamen zu pauken und wieder eine Zulassung zu beantragen.«
»Zurückhalten bedeutet bei dem alten Sack, dass er um Mitternacht mit dem Saufen aufhört.«
»Seit wann bist du eigentlich so nüchtern, Harry Rex? Du trinkst schon die ganze Zeit Bud Light zum Frühstück.«
»Ich weiß, wann ich langsam machen muss. Ich bin ein Profi. Lucien ist nur ein Säufer.«
»Willst du jetzt die Daten für die Geschworenen überarbeiten oder den ganzen Morgen hier rumsitzen und Lucien schlechtmachen?«
Harry Rex stand auf und ging zur Tür. »Später. Hast du ein kaltes Bud Light?«
»Nein.« Als er weg war, öffnete Jake den Umschlag und sah sich den Scheck von der Versicherung an. Einerseits war er traurig, weil der Scheck das Ende ihres ersten Hauses bedeutete. Sicher, es war vor über drei Jahren in Flammen aufgegangen, aber die Klage gegen die Versicherung hatte Carla und ihm Hoffnung darauf gemacht, es wieder aufbauen zu können. Das war immer noch möglich, aber unwahrscheinlich. Andererseits bedeutete der Scheck, dass Geld auf ihr Konto kam. Nicht viel, denn nachdem die beiden Hypotheken abgezahlt waren, würden nur knapp vierzigtausend Dollar übrig bleiben. Es war kein Ver mögen, doch es verschaffte ihnen ein wenig Luft.
Er rief Carla an und sagte, es gebe Grund zum Feiern. Sie solle einen Babysitter suchen.
Lucien klang ganz normal, als er anrief, allerdings bedeutete »normal« bei ihm die übliche heisere Stimme und die schleppende Aussprache eines Alkoholikers, der versucht, den Nebel in seinem Gehirn loszuwerden. Er sagte, Lonny Clark habe eine schlimme Nacht hinter sich, die Infektion wolle nicht zurückgehen, die Ärzte seien noch besorgter als tags zuvor, und, am wichtigsten, er dürfe keinen Besuch bekommen.
»Was haben Sie vor?«, erkundigte sich Jake.
»Ich bleibe eine Weile hier, vielleicht mache ich auch ein paar Ausflüge. Jake, sind Sie schon mal in
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