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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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nur das Licht aus.«
    Lucien zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Erzählen Sie mir von Ancil«, sagte er, nachdem die Krankenschwester gegangen war.
    Lonny hielt die Augen geschlossen und flüsterte fast. »Ancil war immer auf der Flucht. Er ging schon in jungen Jahren von daheim weg und kehrte nie zurück. Er hasste sein Zuhause, vor allem seinen Vater. Er kämpfte im Krieg, wurde verwundet und wäre fast gestorben. Eine Kopfverletzung, und die meisten Leute halten ihn für etwas merkwürdig. Er liebte das Meer, sagte, es fasziniere ihn, weil er so weit von der Küste entfernt geboren sei. Er fuhr jahrelang auf Frachtschiffen und sah die Welt, die ganze Welt. Es gibt keinen Fleck auf der Landkarte, den Ancil nicht kennt. Keinen Berg, keinen Hafen, keine Stadt, keine Sehenswürdigkeit. Keine Bar, keinen Nachtclub, kein Bordell – Ancil war überall. Er trieb sich mit üblen Gestalten herum und geriet gelegentlich mit dem Gesetz in Konflikt, erst als Klein krimineller, dann nicht mehr ganz so klein. Einige Male kam er nur knapp mit dem Leben davon, einmal lag er auf Sri Lanka eine Woche lang mit einer Stichwunde im Krankenhaus. Die Wunde war nichts gegen die Infektion, die er sich im Krankenhaus holte. Er hatte eine Menge Frauen, einige von ihnen hatten eine Menge Kinder, aber Ancil blieb nirgends lange. Soweit ihm bekannt ist, suchen manche dieser Frauen mit ihren Kindern immer noch nach ihm. Kann sein, dass ihm auch andere auf der Spur sind. Ancil hat ein wildes Leben geführt und fühlt sich ständig verfolgt.«
    Er sprach das Wort »Leben« falsch aus – oder vielleicht so, wie es für ihn normal war, nämlich wie die Leute im Norden von Mississippi. Lucien hatte bewusst mit starkem Akzent gesprochen, in der Hoffnung, dass Lonny seinem Beispiel folgen würde. Lonny war aus Mississippi, und sie wussten es beide.
    Er schloss die Augen und schien einzuschlafen. Lucien fixierte ihn einige Minuten lang, wartete. Die Atmung wurde müh samer, als er eindöste. Die rechte Hand sank neben dem Körper auf das Bett. Die Monitore zeigten normalen Blutdruck und Herzschlag. Um sich wach zu halten, tigerte Lucien durch den abgedunkelten Raum, wobei er ständig damit rechnete, dass eine Krankenschwester erschien und ihn wegschickte. Schließlich stellte er sich neben das Bett und drückte Lonnys rechtes Handgelenk kräftig.
    »Ancil! Ancil! Seth hat ein Testament hinterlassen, in dem er Ihnen eine Million Dollar vermacht.«
    Die Augen öffneten sich, und Lucien wiederholte seine Worte.
    Die Debatte tobte seit einer Stunde mit unverminderter Heftigkeit, und die Stimmung war äußerst angespannt. Tatsächlich wurde das Thema seit über einem Monat hitzig diskutiert, und die Meinungen hätten nicht unterschiedlicher sein können. Der Konferenztisch war übersät mit Notizen, Akten, Büchern und den Resten einer schlechten Pizza zum Mitnehmen, die sie zum Abendessen hinuntergeschlungen hatten.
    Sollten die Geschworenen erfahren, was Seths Nachlass wert war? Bei dem Prozess ging es ausschließlich darum, ob das handschriftliche Testament gültig war. Nicht mehr, nicht weniger. Rein formal-juristisch gesehen, spielte es keine Rolle, wie groß oder klein der Nachlass war. Auf der einen Seite des Tisches, wo Harry Rex saß, herrschte die Einschätzung vor, dass die Geschworenen nichts davon erfahren sollten, weil sie mit Sicherheit davor zurückschrecken würden, Lettie Lang vierundzwanzig Millionen Dollar zuzusprechen. Verständlicherweise würde ihnen der Transfer eines solchen Vermögens an eine nicht zur Familie gehörende Person suspekt vorkommen. Die Summe war so unerhört, so schockierend, dass es unvorstell bar schien, eine niedere schwarze Haushälterin damit davonkom men zu lassen. Lucien stimmte Harry Rex in Abwesenheit zu.
    Jake sah das jedoch anders. Sein erstes Argument war, dass die Geschworenen vermutlich ohnehin ahnten, dass es um viel Geld ging, obwohl praktisch alle das während des Auswahlverfahrens geleugnet hatten. Ein Mammutprozess. Jede Menge Anwälte an Bord. Alles an der Sache und dem Verfahren roch nach dem großen Geld. Sein zweites Argument war, dass es am besten war, mit offenen Karten zu spielen. Wenn die Geschworenen das Gefühl hatten, dass er mit etwas hinter dem Berg hielt, büßte er von Anfang an Glaubwürdigkeit ein. Jeder im Saal will wissen, worum es geht. Sagen wir es ihnen. Lasst uns Klartext reden. Ohne etwas zurückzuhalten. Falls sie den Wert des Nachlasses verschleierten, würde

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