Die Erbin
das zur schwärenden Wunde werden.
Portia schwankte hin und her. Vor der Auswahl der Geschwo renen war sie für rückhaltlose Offenheit gewesen. Aber als sie in die Gesichter der zehn Weißen und nur zwei Schwarzen geblickt hatte, fiel es ihr schwer zu glauben, dass sie überhaupt eine Chance hatten. Wenn alle Zeugen ausgesagt hatten, die Anwälte verstummt waren und Richter Atlee seine weisen Worte gesprochen hatte – würden diese zehn Weißen dann in ihrem tiefsten Herzen den Mut finden, Seth Hubbards Testament zu bestätigen? Müde und erschöpft, wie sie im Augenblick war, hatte sie große Zweifel.
Das Telefon klingelte, und sie nahm ab. »Es ist Lucien Wilbanks«, sagte sie und gab Jake den Hörer.
»Hallo«, meldete er sich.
»Wir haben ihn, Jake«, lautete die Neuigkeit aus Alaska. »Unser Kumpel hier ist Ancil Hubbard höchstpersönlich.«
Jake atmete tief durch. »Klingt erfreulich, Lucien.« Er hielt den Hörer zur Seite und sagte: »Es ist Ancil.«
»Was treiben Sie?«, fragte Lucien.
»Wir bereiten uns auf morgen vor. Ich, Portia, Harry Rex. Da entgeht Ihnen was.«
»Sind die Geschworenen bestimmt?«
»Ja. Zehn Weiße, zwei Schwarze, keine großen Überraschungen. Erzählen Sie mir von Ancil.«
»Gut geht’s ihm nicht. Die Kopfwunde hat sich infiziert, und die Ärzte sind besorgt. Tonnen von Medikamenten, Antibiotika und Schmerzmittel. Wir haben den ganzen Tag Karten gespielt und über alles geredet. Mal ist er ansprechbar, mal nicht. Irgendwann habe ich das Testament erwähnt und ihm erzählt, dass ihm sein großer Bruder eine Million hinterlassen hat. Da wurde er hellhörig und gab seine Identität zu. Eine halbe Stunde später hatte er alles vergessen.«
»Soll ich Richter Atlee informieren?«
Harry Rex schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht«, meinte Lucien. »Das Verfahren läuft und wird deswegen nicht unterbrochen werden. Ancil kann nichts Neues beitragen. Er kann noch nicht einmal persönlich erscheinen, weil er einen Schädelbruch hat und die Geschichte mit dem Kokain nicht geklärt ist. Wahrscheinlich wird er letztendlich doch im Gefängnis landen. Die Polizei besteht darauf.«
»Haben Sie mit ihm über seine Familiengeschichte gesprochen?«
»Ja, ziemlich ausführlich, aber lange bevor er die Karten auf den Tisch gelegt hat. Ich habe die Geschichte der Familien Hubbard und Rinds geschildert, mit Betonung auf dem rätselhaften Schicksal von Sylvester Rinds. Er war nicht besonders interessiert. Morgen versuche ich es noch einmal. Vielleicht reise ich morgen Nachmittag ab. Ich will etwas von dem Prozess mitbekommen. Sonst vermurksen Sie noch alles, bis ich zurück bin.«
»Bestimmt, Lucien«, sagte Jake und legte gleich darauf auf. Er berichtete Portia und Harry Rex von dem Gespräch, aber sie hatten bei allem Interesse anderes im Kopf. Die Tatsache, dass Ancil Hubbard am Leben und in Alaska war, würde im Gerichts saal keine Rolle spielen.
Das Telefon klingelte erneut, und Jake nahm ab.
Es war Willie Traynor. »Hören Sie, Jake, nur zur Information: Einer der Geschworenen hätte abgelehnt werden müssen.«
»Jetzt ist es vermutlich zu spät, aber ich höre.«
»Er sitzt in der hintersten Reihe und heißt Doley. Frank Doley.«
Jake war aufgefallen, dass sich Willie den ganzen Tag über Notizen gemacht hatte. »Okay, was stimmt mit diesem Doley nicht?«
»Er hat einen entfernten Cousin in Memphis. Vor sechs oder sieben Jahren wurde die fünfzehnjährige Tochter dieses Cousins von schwarzen Gangstern vor einem Einkaufszentrum in East Memphis entführt. Sie haben sie stundenlang in einem Van festgehalten. Ihr wurden furchtbare Dinge angetan. Das Mädchen überlebte, war aber zu verstört, um irgendwen zu identifizieren. Es gab keinerlei Festnahmen. Zwei Jahre später beging das Mädchen Selbstmord. Eine echte Tragödie.«
»Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«
»Mir ist der Name vor einer Stunde aufgefallen. Ich war damals in Memphis und weiß noch, dass es in Ford County ein paar Doleys gab. Den werden Sie besser los, Jake.«
»So einfach ist das nicht mehr. Tatsächlich ist es zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich. Der Mann ist von den Anwälten und dem Richter befragt worden und hat völlig korrekte Antworten gegeben.« Frank Doley war dreiundvierzig und besaß eine Dach deckerfirma draußen in der Nähe des Sees. Er hatte behauptet, nichts über die Sache Seth Hubbard zu wissen, und unvoreingenommen gewirkt.
Den Anruf hätte Willie sich sparen können.
»Tut mir
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