Die Erbin
Krankenschwester freute sich, dass sie Lucien wegschicken konnte.
Er ging, war aber zwei Stunden später schon wieder da, um nach seinem neuen Freund zu sehen. Jetzt wollte Lonny Blackjack spielen, mit einem Einsatz von zehn Cent pro Hand.
»Ich habe Jake Brigance angerufen, den Anwalt, für den ich in Mississippi arbeite«, sagte Lucien, »und ihn gebeten, diesen Sylvester Rinds zu überprüfen, den Sie erwähnt hatten. Er hat was herausgefunden.«
Lonny legte seine Karten ab und warf Lucien einen neugierigen Blick zu. »Und was?«, fragte er bedächtig.
»Dem Grundstücksregister von Ford County zufolge besaß Sylvester Rinds im Nordosten des County dreißig Hektar Land, die er von seinem Vater geerbt hatte, einem gewissen Solomon Rinds, der um die Zeit des Ausbruchs des amerikanischen Bürgerkriegs geboren war. Die Unterlagen sind nicht eindeutig, aber die Familie Rinds gelangte vermutlich unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkriegs in den Besitz des Landes, als freigelassene Sklaven mithilfe von Kriegsgewinnlern, Bundesgouverneuren und anderem Abschaum, der damals unser Land über schwemmte, Grund erwerben konnten. Anscheinend waren diese dreißig Hektar eine Zeit lang umstritten. Die Familie Hubbard besaß ebenfalls dreißig Hektar, die an das Anwesen der Rinds angrenzten, und focht offenbar den Eigentumsanspruch an. Bei dem Verfahren, das ich heute Morgen erwähnt habe, bei der Klage, die Cleon Hubbard 1928 eingereicht hat, ging es um das Land der Rinds. Mein Großvater, einer der besten Anwälte im County und hervorragend vernetzt, verlor das Verfahren. Wenn mein Großvater Cleons Anspruch nicht gegen die Rinds durchsetzen konnte, müssen deren Ansprüche überzeugend begründet gewesen sein. Sylvester Rinds behielt den Grund, starb aber 1930. Nach seinem Tod erhielt Cleon Hubbard das Land von Sylvesters Witwe.«
Lonny hatte seine Karten aufgenommen und musterte sie, ohne sie zu sehen. Während er lauschte, sah er Bilder aus einem anderen Leben vor sich.
»Ganz schön spannend, was?«, meinte Lucien.
»Das ist alles so lange her«, sagte Lonny und verzog das Gesicht, weil eine Schmerzwelle durch seinen Schädel tobte.
Lucien bohrte weiter. Er hatte nichts zu verlieren und wollte auf keinen Fall aufgeben. »Das Merkwürdigste an der ganzen Geschichte ist, dass Sylvesters Tod nirgends verzeichnet ist. In Ford County gibt es keinen einzigen Rinds mehr, und es sieht so aus, als hätten sie alle die Gegend um die Zeit verlassen, als Cleon Hubbard das Land in die Finger bekam. Sie verschwanden allesamt von der Bildfläche, die meisten gingen nach Norden, nach Chicago, wo es Arbeit gab, aber das war während der Depression nicht ungewöhnlich. Viele hungernde Schwarze flohen aus dem tiefen Süden. Mr. Brigance sagt, sie hätten in Alabama einen entfernten Verwandten, einen gewissen Boaz Rinds, aufgespürt, der behauptet, Weiße hätten Sylvester ver schleppt und ermordet.«
»Was hat das mit der Sache zu tun?«, wollte Lonny wissen.
Lucien erhob sich und ging zum Fenster, wo er auf den Park platz unten hinausblickte. Er überlegte, ob er jetzt mit der Wahr heit herausrücken, Lonny von dem Testament, Lettie Lang und ihrer Abstammung erzählen sollte: dass sie höchstwahrscheinlich eine Rinds und keine Tayber war, dass ihre Familie aus Ford County stammte und einmal auf dem Land gelebt hatte, das Sylvester gehört hatte, und dass Sylvester höchstwahrscheinlich ihr Großvater war.
Aber er setzte sich wieder. »Eigentlich gar nichts. Nur eine alte Geschichte über meine Familie, die von Seth Hubbard und vielleicht auch die von Sylvester Rinds.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Keiner der beiden fasste seine Karten an. Keiner nahm Blickkontakt auf. Lonny schien seinen Gedanken nachzuhängen, bis Lucien ihn mit einer Frage in die Realität zurückholte. »Sie kannten Ancil, stimmt’s?«
»Ja«, erwiderte Lonny.
»Erzählen Sie mir von ihm. Ich muss ihn finden, und zwar schnell.«
»Was wollen Sie über ihn wissen?«
»Lebt er noch?«
»Ja, er ist noch am Leben.«
»Wo ist er im Augenblick?«
»Weiß ich nicht.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
Eine Krankenschwester kam herein und schwatzte etwas von Überprüfung der Vitalfunktionen. Lonny sagte, er sei müde, und sie half ihm ins Bett, prüfte die Infusion, warf Lucien einen wütenden Blick zu und maß dann Lonnys Blutdruck und Puls.
»Er braucht Ruhe«, sagte sie.
Lonny schloss die Augen. »Gehen Sie noch nicht. Knipsen Sie
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