Die Erbin
dass Richter Atlee ein schwerer Fehler unterlaufen war. Der Prozess war verloren, doch die Revisionsgründe wurden von Stunde zu Stunde schlagkräftiger. Jake würde seinen Spaß daran haben, die Taschenspielertricks von Wade Lanier vor dem Obersten Gerichtshof von Mississippi zu entlarven. Es würde ihm große Befriedigung zu verschaffen, endlich ein Urteil von Reuben V. Atlee aufheben zu lassen.
Er musste sich eingestehen, dass er sich im Geiste geschlagen gab, wenn er bereits an die Revision dachte. Er befragte Julina Kidd ein paar Minuten lang, nur bis sie zugegeben hatte, dass sie für ihre Aussage bezahlt wurde. Sie wollte nicht sagen, wie viel sie bekam – offenbar hatte Lanier rechtzeitig mit ihr darüber gesprochen.
»Damals war es also Sex für Geld, und jetzt ist es eine Zeugenaussage für Geld, Mrs. Kidd?«, fragte er. Es war eine unfaire Frage, die er am liebsten zurückgenommen hätte, sobald sie ausgesprochen war.
Sie zuckte nur die Achseln, erwiderte aber nichts, vielleicht die souveränste Antwort des Tages.
Um halb sechs vertagte Richter Atlee die Verhandlung auf Donnerstagmorgen. Jake blieb lange, nachdem alle anderen gegangen waren, im Saal. Er redete leise mit Portia und Lettie, de nen er vergeblich einzureden versuchte, dass die Dinge nicht so schlimm standen, wie es aussah. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen.
Er ging, als Mr. Pate das Licht ausschaltete.
Doch er begab sich nicht in Richter Atlees Büro, wie dieser verlangt hatte. Stattdessen fuhr er nach Hause. Er brauchte Ruhe und wollte bei den beiden Menschen sein, die er am meisten liebte, den beiden, für die er immer der beste Anwalt der Welt sein würde.
45
Der Flug nach Seattle war überbucht. Lucien ergatterte den letzten Platz auf einer Maschine nach San Francisco, wo er zwanzig Minuten hatte, um einen Direktflug nach Chicago zu erwischen. Wenn alles glatt lief, würde er kurz nach Mitternacht in Memphis landen. Nichts lief glatt. Er verpasste in San Francisco seinen Anschlussflug und beschimpfte einen Mitarbeiter am Abfertigungsschalter so übel, dass ihm ein Sicherheitsbediensteter fast Handschellen angelegt hätte. Um ihn loszuwerden, setzten sie ihn auf einen Shuttleflug nach Los Angeles, wo die Verbindungen nach Dallas angeblich günstiger waren. Auf dem Weg nach L.A. trank er drei doppelte Bourbon on Ice, und die Flugbegleiter wechselten bedeutungsvolle Blicke. Nach der Landung marschierte er direkt in eine Bar und trank weiter. Er rief viermal in Jakes Kanzlei an, erwischte aber nur den Anrufbeantworter. Er versuchte es dreimal bei Harry Rex, bekam aber nur zu hören, der Anwalt sei bei Gericht. Als um 7.30 Uhr der Direktflug nach Dallas gestrichen wurde, verfluchte er den nächsten Check-in-Mit arbeiter und drohte damit, American Airlines zu verklagen. Um ihn loszuwerden, setzte man ihn auf einen vierstündigen Flug nach Atlanta, erste Klasse, Getränke inklusive.
Tully Still fuhr einen Gabelstapler für ein Transportunter nehmen im Gewerbegebiet nördlich der Stadt. Er hatte Nachtschicht und war leicht zu finden. Um halb neun am Mittwochabend nickte Ozzie Walls ihm zu, und sie gingen nach draußen in die Dunkelheit. Still zündete sich eine Zigarette an. Die beiden waren nicht verwandt, doch ihre Mütter waren seit der Grundschule befreundet. Tullys Frau Michele war Ge schworene Nummer drei. Erste Reihe, direkt in der Mitte, Jakes Star.
»Wie schlecht sieht es aus?«, fragte Ozzie.
»Ziemlich schlecht. Was ist denn passiert? Alles war in schöns ter Ordnung, und dann bricht die ganze Sache in sich zu sammen.«
»Ein paar Zeugen sind plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Was wird da drinnen geredet?«
»Ozzie, sogar Michele macht sich Gedanken über Lettie Lang. Es sieht einfach nicht gut aus, wenn die Frau gewohnheits mäßig alte Weiße dazu bringt, ihr Testament zu ändern. Keine Sorge, Michele und diese Gaston halten ihr trotzdem die Stange, aber damit hat sie gerade einmal zwei Stimmen. Und die wei ßen Geschworenen sind keine schlechten Leute, höchstens ein oder zwei, aber die meisten waren bis heute Vormittag auf Letties Seite. Bei denen heißt es bestimmt nicht Schwarz gegen Weiß.«
»Es wird also viel geredet?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube, es wird viel getuschelt. Ist das nicht normal? Man kann nicht erwarten, dass die Leute bis zum Schluss kein Wort von sich geben.«
»Vermutlich nicht.«
»Was wird Jake Brigance unternehmen?«
»Keine Ahnung, ob er überhaupt was unternehmen
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