Die Erbin
ansprechbar. Du bist gestresst, nervös, gereizt, manchmal ist dir schlecht. Am Morgen wachst du mit einem Klumpen im Magen auf.«
»Was ist die Frage?«
»Warum um alles in der Welt bist du Prozessanwalt?«
»Jetzt ist vielleicht nicht der richtige Augenblick, mich das zu fragen.«
»Nein, es ist der ideale Augenblick. Wie viele Geschworenen prozesse hast du in den letzten zehn Jahren geführt?«
»Einunddreißig.«
»Und jeder davon hat dich Schlaf gekostet, jedes Mal hast du an Gewicht verloren, stimmt’s?«
»Glaube ich nicht. Die meisten sind nicht so wichtig wie dieser, Carla. Der hier ist eine Ausnahme.«
»Was ich damit sagen will, ist, dass die Arbeit als Prozessanwalt enorm stressig ist. Warum tust du dir das an?«
»Weil es mir Spaß macht. Deswegen bin ich Anwalt. Wenn man im Gericht steht, vor den Geschworenen, ist das wie in einer Arena oder auf dem Sportplatz. Die Konkurrenz ist unerbittlich. Der Einsatz ist hoch. Jeder bietet sein ganzes Kön nen auf. Es wird einen Gewinner und einen Verlierer geben. Jedes Mal, wenn die Geschworenen hereingeführt werden und ihre Plätze einnehmen, schießt einem das Adrenalin durch die Adern.«
»Ganz schön viel Ego.«
»Jede Menge. Einen erfolgreichen Prozessanwalt ohne Ego gibt es nicht. Das ist Voraussetzung. Wer den Job machen will, braucht ein großes Ego.«
»Dann bist du ja genau der Richtige.«
»Okay, ich gebe zu, ich habe das richtige Ego, aber diese Woche könnte es einen herben Rückschlag erleiden. Vielleicht braucht es Trost.«
»Jetzt oder später?«
»Jetzt. Es ist schon acht Tage her.«
»Schließ die Tür ab.«
Lucien hatte irgendwo in zwölf Kilometer Höhe über Mississippi einen Filmriss. Als das Flugzeug in Atlanta landete, halfen ihm die Flugbegleiter aus der Maschine. Zwei Sicherheits bedienstete setzten ihn in einen Rollstuhl und karrten ihn zum Gate für den Flug nach Memphis. Sie kamen an mehreren Lounges vorbei, die er sich genau merkte. Als ihn die Flug hafenmitarbeiter abstellten, bedankte er sich, stand auf und tau melte zur nächsten Bar, wo er ein Bier bestellte. Er trank extra wenig, war verantwortungsbewusst. Von Atlanta bis Memphis, wo er um 7.10 Uhr landete, schlief er. Da er aus dem Flugzeug geschleift werden musste, wurde der Sicherheitsdienst verständigt, und der rief die Polizei.
Portia nahm den Anruf im Büro entgegen. Jake war oben und ging verzweifelt Zeugenaussagen durch, als sie sich über die Tele fonanlage meldete.
»Jake, das ist ein R-Gespräch von Lucien.«
»Wo steckt er?«
»Keine Ahnung, aber er klingt furchtbar.«
»Nehmen Sie den Anruf an, und stellen Sie durch.«
Sekunden später griff Jake zum Hörer. »Lucien, wo sind Sie?«
Mit größter Mühle gelang es Lucien mitzuteilen, dass er in Memphis im städtischen Gefängnis sitze und Jake ihn abholen solle. Er sprach mit schwerer Zunge, wirr und war offensicht lich sternhagelvoll. Leider hatte Jake das alles schon viel zu oft gehört. Er war plötzlich wütend und empfand nicht das ge ringste Mitgefühl.
»Die lassen mich nicht reden«, lallte Lucien, kaum verständlich. Dann schien er irgendwen im Hintergrund anzufauchen, und Jake konnte sich die Szene nur allzu gut vorstellen.
»Lucien, wir müssen in fünf Minuten ins Gericht. Tut mir leid«, sagte er. Aber es tat ihm überhaupt nicht leid. Sollte er doch im Gefängnis verrotten.
»Ich muss kommen, Jake, es ist wichtig«, sagte Lucien so undeutlich, dass er sich dreimal wiederholen musste.
»Was ist wichtig?«
»Ich hab ne eidesstattliche Aussage. Von Ancil. Ancil Hubbard. Protokollierte Zeugenaussage. Ist wichtig, Jake.«
Jake und Portia rannten über die Straße und betraten das Gerichtsgebäude durch die Hintertür. Ozzie stand im Erdgeschoss im Gang und unterhielt sich mit einem Hausmeister.
»Hast du kurz Zeit?«, fragte Jake mit einem Blick, der den Ernst der Lage verriet. Zehn Minuten später waren Ozzie und Marshall Prather nach Memphis unterwegs.
»Ich habe Sie gestern vermisst«, sagte Atlee, als Jake das Richter zimmer betrat. Die Anwälte versammelten sich gerade zum mor gendlichen Briefing für die Verhandlung.
»Tut mir leid, Richter Atlee, aber ich musste noch die Verhandlung nachbereiten«, erwiderte Jake.
»Kann ich mir vorstellen. Gibt es heute Morgen etwas, was wir vor der Verhandlung klären müssten, Gentlemen?«
Die Anwälte der das Testament anfechtenden Parteien lächel ten grimmig und schüttelten die Köpfe. Nein.
»Doch, ja, Euer Ehren, es gibt
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