Die Erbin
aus der Gegend namens Bobby Carl Leach, dessen Name schon öfter im Zusammenhang mit Großbränden und Klagen gegen Versicherungen aufgetaucht war. Jake hatte zum Glück nichts mit diesem Verfahren zu tun gehabt; er war Leach nach Möglichkeit immer aus dem Weg gegangen. Im Lauf des Verfahrens aber kam ans Licht, dass der Mann ein Nettovermögen von etwa vier Millionen Dollar besaß. Es war im Wesentlichen gebundenes Kapital, doch nach Verrechnung aller Verbindlichkeiten blieb immer noch ein eindrucksvoller Betrag zu seinen Gunsten übrig. Das hatte zu endlosen Diskussionen geführt, wer nun genau der reichste Mensch von Ford County sei. Beim morgendlichen Kaffee am Clanton Square wurde darüber debattiert, Bankangestellte diskutierten nach Feierabend in ihren Bars, und bei Gericht hatten die Anwälte täglich Neues zu berichten.
Bobby Carl stand mit seinen vier Millionen mit Sicherheit ganz oben auf der Liste. Die Wilbanks hätten dort auch hingehört, hätte nicht Lucien das Erbe schon vor Jahrzehnten durch gebracht. Verzeichnet waren dann noch ein paar Farmer, aller dings mehr aus Tradition. Sie hatten »Familienvermögen«, was Ende der Achtzigerjahre vor allem bedeutete, dass sie Land be saßen, aber ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten. Acht Jahre zuvor hatte ein gewisser Willie Traynor die Ford County Times für 1,5 Millionen Dollar verkauft, und Gerüchten zufolge hatte er die Summe an der Börse verdoppelt – wobei den Gerüchten um Willie niemand wirklich Glauben schenkte. Eine Neunzigjährige besaß angeblich Bankaktien im Wert von sechs Millionen Dollar. Im weiteren Verlauf des Wettbewerbs tauchte plötzlich im Büro eines Gerichtsangestellten eine Liste auf, die bald überall in der Stadt herumgefaxt wurde. Der anonyme Verfasser hatte sie Forbes-Top-Ten-Liste der Reichsten in Ford County genannt, ein gefundenes Fressen für die Klatschmäuler der Stadt. Die Liste wurde nach Belieben erweitert, ausgeschmückt, ergänzt, aktualisiert und fand sogar Verwendung in einem Roman. Doch in keiner einzigen Version wurde ein Mr. Seth Hubbard erwähnt.
Es dauerte mehrere Wochen, bis das begeisterte Spekulieren mangels neuer Erkenntnisse abflaute. Seinen eigenen Namen hatte Jake natürlich nicht auf dieser Liste gefunden.
Er musste grinsen, als er daran dachte, welchen Aufruhr es auslösen würde, wenn Lettie Langs Name dort auftauchen würde.
9
An ihrem letzten Arbeitstag kam Lettie eine halbe Stunde früher. Wider alle Vernunft hoffte sie, dass ihre Pünktlichkeit Mr. Herschel und Mrs. Dafoe beeindrucken könnte, sodass sie es sich vielleicht anders überlegten und sie nicht entließen. Um halb acht parkte sie ihren zwölf Jahre alten Pontiac neben Mr. Seths Pick-up. »Mister Seth« hatte sie ihn seit Monaten nicht mehr genannt, schon gar nicht, wenn sie allein waren. Nur in Gegenwart anderer war sie dabei geblieben, aber nur wegen des äuße ren Scheins. Sie atmete tief durch und schloss die Finger fest um das Lenkrad. Es wäre ihr lieber gewesen, diese Leute nicht noch einmal zu sehen. Sie würden abreisen, sobald sie konnten. Lettie hatte gehört, wie sie sich darüber beklagten, dass sie noch zwei Nächte hierbleiben mussten. Zu Hause brach ohne sie offenbar alles zusammen, und sie konnten es gar nicht abwarten, hier wegzukommen. Es war ihnen lästig, ihren eigenen Vater zu beerdigen. Sie hassten Ford County.
Lettie hatte schlecht geschlafen. Mr. Brigance’ Anspielung auf den »beträchtlichen Teil seines Vermögens«, den Seth ihr hinterlassen haben sollte, war ihr die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gegangen. Simeon hatte sie nichts davon erzählt. Vielleicht würde sie das später nachholen. Vielleicht würde sie es auch Mr. Brigance überlassen. Simeon hatte sie ausgefragt, was der Anwalt von ihr gewollt habe, doch Lettie war viel zu verwirrt und ängstlich gewesen, um es ihm zu erklären. Außerdem, wie sollte sie etwas erklären, was sie selbst nicht verstand? So durcheinander sie auch war, eines war ihr klar: Es wäre dumm und naiv, an einen glücklichen Ausgang zu glauben. Sie würde das alles erst für wahr halten, wenn sie das Geld in Händen hielt, keinen Tag früher.
Die Tür zwischen Garage und Küche war unverschlossen. Lettie trat leise ein und blieb stehen, um auf Lebenszeichen zu horchen. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Auf der Küchen theke röchelte die Kaffeemaschine. Als Lettie vernehmlich hustete, rief eine Stimme: »Lettie, sind Sie das?«
»Ja«, erwiderte sie verbindlich.
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