Die Erbin
ich schwöre, ich weiß es nicht«, erwiderte sie mit belegter Stimme.
»Hat er mit Ihnen über das Testament gesprochen?«
»Nein.«
»Haben Sie es schon einmal gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Hat er Ihnen gegenüber jemals etwas angedeutet?«
Sie brauchte eine Weile, bis sie ihre Gedanken geordnet hatte. »Zweimal vielleicht, in den vergangenen Monaten. Er hat angedeutet, er würde mir ›ein bisschen was‹ hinterlassen, aber mehr hat er dazu nie gesagt. Natürlich habe ich gehofft, dass er es wahr macht, aber ich habe ihn nie darauf angesprochen. Ich habe kein Testament. Meine Momma hat auch keins. Wir denken über so etwas gar nicht nach, verstehen Sie das, Mr. Brigance?«
»Bitte nennen Sie mich Jake.«
»Ich werde es versuchen.«
»Wie haben Sie ihn angesprochen: Mr. Hubbard, Mr. Seth oder Seth?«
»Wenn wir allein waren«, sagte sie bedächtig, »habe ich Seth gesagt, weil er das so wollte. Wenn andere dabei waren, habe ich immer Mr. Seth oder Mr. Hubbard gesagt.«
»Wie hat er Sie angesprochen?«
»Mit Lettie. Immer.«
Jake fragte sie weiter aus, über Seths letzte Tage, seine Krankheit, Therapien, Ärzte, Krankenschwestern, seinen Appetit, die tägliche Routine und ihre Aufgaben im Haus. Sie wisse fast nichts über seine Geschäfte, er habe seine Unterlagen im Haus immer weggeschlossen. Das meiste habe er in den vergangenen Monaten in die Firma gebracht. Er habe nie mit ihr über Geschäftliches gesprochen, nicht einmal mit anderen, wenn sie dabei gewesen sei. Vor seiner Krankheit und auch später noch, in guten Phasen, sei er viel gereist. Sein Haus sei still und einsam gewesen, kein glücklicher Ort. Oft sei sie vor acht schon da gewesen und habe dann acht Stunden lang nichts zu tun gehabt, besonders wenn Seth verreist gewesen sei. Wenn nicht, habe sie gekocht und geputzt. Als er krank geworden sei, sei sie bei ihm geblieben. Sie habe ihn gefüttert, und ja, sie habe ihn gewaschen und sauber gemacht, wenn es sein musste. Es habe schwierige Phasen gegeben, vor allem während der Chemo und der Bestrahlungen, da sei er ans Bett gefesselt gewesen und habe kaum allein essen können.
Jake erläuterte vorsichtig, was unter »unzulässiger Beeinflussung« zu verstehen war. Die Klage gegen das handschriftliche Testament werde sich gegen Lettie richten, man werde ihr unter stellen, dass sie Seth zu nahe gekommen sei und ihn manipuliert habe. Um zu gewinnen, müsse sie das Gegenteil beweisen. Während sie sich im Gespräch allmählich entspannte, stellte Jake sich vor, wie sie vor Gericht ihre Aussage machte, umgeben von zähnefletschenden Anwälten, die es gar nicht erwarten konn ten, aus ihr herauszuquetschen, was sie alles mit Mr. Hubbard gemacht hatte. Sie tat ihm jetzt schon leid.
Als sie sich wieder im Griff hatte, sagte er: »Ich muss hier auch noch unser Verhältnis klären, Lettie. Ich bin nicht Ihr Anwalt. Ich vertrete Mr. Hubbards Nachlass. Meine Aufgabe ist es, das Testament zu eröffnen und umzusetzen. Ich werde mit dem Testamentsvollstrecker zusammenarbeiten, das wird voraussichtlich Mr. Amburgh sein. Es gibt da ein paar Dinge zu erledigen, die gesetzlich vorgeschrieben sind, etwa potenzielle Gläubiger informieren, das Vermögen schützen, die Vermögens werte im Einzelnen erfassen und so weiter. Wenn das Testament angefochten werden sollte, und davon gehe ich aus, ist es meine Aufgabe, vor Gericht zu gehen und es zu verteidigen. Ich bin nicht Ihr Anwalt, denn Sie sind die durch das Testament Begünstigte – ebenso wie Seths Bruder Ancil Hubbard und Mr. Hubbards Kirche. Gleichwohl ziehen wir an einem Strang, weil wir beide wollen, dass dieses Testament gewinnt. Klingt das halbwegs logisch für Sie?«
»Ich glaube schon. Brauche ich denn einen Anwalt?«
»Eigentlich nicht. Zumindest noch nicht. Engagieren Sie kei nen, bevor Sie nicht wirklich einen brauchen.« Die Geier würden bald kreisen, und es würde voll werden im Gerichtssaal. Wenn zwanzig Millionen auf dem Tisch lagen, brachte man sich besser schleunigst in Sicherheit.
»Werden Sie mir sagen, wenn ich einen brauche?«, fragte sie arglos.
»Ja, das werde ich«, erwiderte Jake, obwohl er keine Ahnung hatte, wie das gehen sollte. Er schenkte Kaffee nach und stellte fest, dass sie ihren noch gar nicht angerührt hatte. Er sah auf die Uhr. Seit dreißig Minuten saßen sie zusammen, und sie hatte noch nicht nach dem Nachlassvolumen gefragt. Ein Weißer hätte keine fünf Minuten gebraucht. Zeitweise schien sie
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