Die Erbin
gegeben. Ich komme am besten gleich zur Sache.« Seine Stimme hatte einen nervösen Unterton, und Ian wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Ramona setzte sich auf und rieb sich die geschwollenen Augen.
Stillman fuhr fort. »Wir konnten Mr. Hubbards Testament nicht eröffnen, da der Antrag bereits für ein anderes Testament gestellt worden ist. Offenbar ist ein Anwalt aus Clanton gestern Nachmittag noch zum Gericht gerannt, um einen handschriftlichen Letzten Willen einzureichen, den Mr. Hubbard angeblich am Samstag verfasst haben soll, dem Tag vor seinem Tod. Handschriftliche Testamente sind gültig, sofern sie bestimmte Kriterien erfüllen. Dieser Wisch ist ein Witz: Die Familie bekommt nichts – Ramona und Herschel sind ausdrücklich enterbt –, stattdessen gehen neunzig Prozent des Erbes an Lettie Lang, die Haushälterin.«
»Lettie!«, stieß Ian aus, verriss das Steuer und lenkte den Wagen fast über den Mittelstreifen.
»Was ist?«, krächzte Ramona von hinten.
»Ja, Lettie Lang«, wiederholte Stillman. »Scheint, als wäre sie ihm ziemlich ans Herz gewachsen.«
»Das ist absurd!«, sagte Ian scharf und starrte in den Rückspiegel. »Neunzig Prozent? Haben Sie neunzig Prozent gesagt?«
»Ja. Ich habe eine Kopie des Testaments, und darin steht eindeutig neunzig Prozent.«
»Handgeschrieben? Vielleicht eine Fälschung?«
»Das können wir bislang noch nicht sagen. Im Augenblick ist alles spekulativ.«
»Aber das ist doch keine ernsthafte Bedrohung, nicht wahr, Stillman?«
»Natürlich nicht. Wir haben mit dem Anwalt gesprochen, der das Testament eröffnet hat. Er will den Antrag nicht zurück ziehen. Wir haben vereinbart, dass wir uns in Kürze mit dem Richter zusammensetzen und die Dinge besprechen.«
»Mit dem Richter? Was soll denn das heißen?«
»Nun, wir werden den Richter bitten, das handschriftliche Pamphlet für ungültig zu erklären und das rechtmäßige Testa ment zu eröffnen. Falls er aus irgendwelchen Gründen Nein sagt, wird der Fall vor Gericht ausgefochten.«
»Wann gehen wir vor Gericht?«, fragte Ian kampflustig, doch da lag auch eine verzweifelte Note in seiner Stimme, als spürte er, dass ihm die Felle davonzuschwimmen drohten.
»Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Ich werde mich in ein paar Tagen wieder melden. Wir werden das regeln, Ian.«
»Das hoffe ich sehr, sonst bringe ich die Kanzlei Lanier aus Jackson ins Spiel, die ganz schweren Jungs. Die vertreten mich schon seit Ewigkeiten und wissen, wie man Prozesse führt. Am besten ruf ich Wade Lanier sofort an.«
»Das ist nicht nötig, Ian, jedenfalls noch nicht. Im Augenblick können wir nicht noch mehr Anwälte gebrauchen. Ich melde mich in einigen Tagen.«
»Tun Sie das.« Ian pfefferte das Telefon hin und starrte seine Frau an.
»Was ist da los, Ian?«
Ian atmete tief durch. »Das wirst du nicht für möglich halten.«
Herschel saß am Steuer seines kleinen Datsun und hörte Bruce Springsteen, als der Anruf kam. Der Datsun parkte neben dem Haupteingang des BMW-Händlers von East Memphis. Dutzende hochglanzpolierte neue BMWs reihten sich entlang der Straße auf. Es war lächerlich hierherzukommen, doch er hatte sich auf einen Kompromiss mit sich selbst geeinigt: ein Gespräch mit einem Verkäufer, aber keine Probefahrt. Noch nicht jedenfalls. Als er das Radio ausschalten wollte, um auszusteigen, klingelte das Autotelefon.
Es war Stillman Rush, der mit nervöser Stimme sagte: »Herschel, es gibt da ein Problem.«
Lettie kam allein. Jake ließ sie vorangehen, die Treppe hoch zum großen Büro, wo er die Tür schloss und sie zu einer kleinen Sitzgruppe mit Sofa und Sesseln führte. Er legte seine Krawatte ab und schenkte Kaffee ein, um ihr die Nervosität zu nehmen. Sie erklärte, dass Simeon wieder unterwegs sei. Sie habe ihm nichts über Seths Testament erzählen wollen, und darüber habe er sich geärgert. Sie hätten sich kurz, aber laut und heftig gestritten, dann sei er ins Auto gestiegen und weggefahren.
Jake reichte ihr eine Kopie des Testaments. Beim Lesen begann sie zu weinen. Er stellte eine Kleenexbox neben ihren Ses sel. Sie las es erneut, und als sie geendet hatte, legte sie die Blätter auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Als die Tränen versiegt waren, wischte sie sich die Wangen und straffte die Schultern, als hätte sie den Schreck überwunden und könnte jetzt zur Sache kommen.
»Warum hat er das gemacht, Lettie?«, fragte Jake sachlich.
»Ich habe keine Ahnung,
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