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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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verschiedenen Bereichen. Wollte er bei den Zuschauern sitzen und die Show genießen? Oder dachte er an einen Platz zwischen den anderen Anwälten? In diesem Fall hätte Jake ein Problem. Wenn Lucien wieder als Anwalt tätig werden wollte, müsste er natürlich zuerst die Zulassungsprüfung wiederholen. Aber falls er bestand, hätte er wieder eine Lizenz und könnte in Jakes Büroalltag zurückkehren.
    Die Vorstellung, wie Lucien zwischen den Verteidigern saß, kaum fünf Meter von der Geschworenenbank entfernt, war beängstigend. Für die meisten Weißen war er ein Sonderling – ein verrückter alter Säufer, der eine einstmals stolze Anwaltsdynastie zum Gespött gemacht hatte und jetzt mit seiner Haushälterin in wilder Ehe lebte.
    »Wir werden sehen«, sagte Jake vorsichtig.

12
    Richter Reuben V. Atlee litt noch unter den Folgen seines dritten Herzinfarkts, hatte jedoch Aussicht auf »vollständige« Genesung, was auch immer das bei einem derartigen Herzschaden zu bedeuten hatte. Er gewann zunehmend an Kraft und Durchhaltevermögen, und das ließ sich an seiner Prozessliste ablesen. Auch sonst gab es klare Anzeichen dafür, dass er bald wieder ganz der Alte sein würde. Anwälte wurden zusammengestaucht. Terminsachen wurden eingefordert. Langatmigen Zeugen wurde das Wort abgeschnitten. Meineidigen wurde mit Haftstrafen gedroht. Wer mit unseriösen Klagen ankam, wurde kurzerhand des Gerichts verwiesen. Auf den Fluren des Gerichtsgebäudes waren sich Anwälte, Verwaltungsangestellte und sogar die Haus meister einig: »Er ist wieder da.«
    Seit dreißig Jahren war Richter Atlee nun schon im Amt und wurde in schöner Regelmäßigkeit alle vier Jahre ohne Gegen kandidat wiedergewählt. Er war weder Demokrat noch Re publikaner, weder liberal noch konservativ, weder Baptist noch Katholik, und er bevorzugte weder die State University noch Ole Miss. Er hatte keine Steckenpferde, keine Neigungen, keine vorgefassten Meinungen. Er war so offen, tolerant und gerecht, wie ein Richter mit seiner Herkunft und Erziehung sein konnte. Er führte seine Prozesse mit harter Hand. Wer unvorbereitet kam, wurde gerügt, doch wer sich schwertat, dem wurde geholfen. Freilich hatte er einen leichten Hang zum Sadismus, der allen Anwälten im County Angst einjagte, außer vielleicht Harry Rex Vonner.
    Neun Tage nachdem Seth sich erhängt hatte, nahm Richter Atlee seinen Platz hinter der Richterbank ein und wünschte Guten Morgen. Jake fand, dass er so fit aussah wie immer, was in Anbetracht seiner Krankengeschichte nicht unbedingt viel heißen wollte. Er war ein mächtiger Mann, mit einer Größe von über einem Meter achtzig und einem ausladenden Bauch, den er geschickt unter der schwarzen Robe verbarg.
    »Nette Versammlung«, sagte der Richter belustigt und blickte über den Saal. Es hatten sich kaum genügend Sitzplätze für alle Anwälte gefunden. Jake war früh da gewesen und hatte seinen Platz am Klägertisch behauptet, wo er nun zusammen mit Russell Amburgh saß, der ihm am Morgen mitgeteilt hatte, dass er aussteigen wolle. Gleich hinter ihnen, auf seiner Seite, wenn auch nicht unbedingt in seinem Team, saß Lettie Lang, flankiert von zwei schwarzen Anwälten aus Memphis.
    Jakes Welt war tags zuvor erschüttert worden, als er erfuhr, dass Lettie Booker Sistrunk engagiert hatte, der einen üblen Ruf als Bombenleger hatte und diesen Fall erheblich komplizieren würde. Jake hatte versucht, Lettie telefonisch zu erreichen. Er konnte immer noch nicht fassen, dass sie diese unkluge Entscheidung getroffen hatte.
    Am Verteidigertisch auf der anderen Seite drängte sich eine ganze Schar von Anwälten in schicken Anzügen. Jenseits der Schranke auf den alten Holzbankreihen im Zuschauerraum verteilte sich eine eindrucksvolle Menge, deren Neugier förmlich greifbar war.
    Richter Atlee sagte: »Bevor wir anfangen, möchte ich klarstellen, warum wir hier zusammengekommen sind und was wir heute erreichen wollen. Wir sind nicht hier, weil jemand Klage eingereicht hat. Das kommt erst noch. Heute ist es unser Ziel zu überlegen, wie wir vorgehen werden. Wenn ich richtig verstehe, hat Mr. Seth Hubbard zwei Testamente hinterlassen. Das eine ist ein handschriftliches vom 1. Oktober dieses Jahres, das Sie, Mr. Brigance, zur Eröffnung eingereicht haben.« Jake nickte stumm und blieb sitzen. Wenn man Richter Atlee ansprechen wollte, stand man besser auf. Im Sitzen zu nicken ließ er gerade noch durchgehen. »Das zweite stammt vom 7. September letzten

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