Die Erbin
nicht über private Angelegenheiten gesprochen. Grundsätzlich nicht. Ich habe sechs Jahre für ihn gearbeitet und ihn nicht ein Wort über Kinder, Enkel, Verwandte, Freunde, Feinde …«
»Lettie Lang?«
»Keine Silbe. Ich war nie bei ihm zu Hause, ich habe diese Frau nie kennengelernt, ich weiß nichts über sie. Ich habe ihr Gesicht zum ersten Mal auf einem Foto in der Zeitung ge sehen.«
»Es gibt Gerüchte, dass Seth die Frauen mochte.«
»Davon habe ich auch gehört, aber mich hat er nie angefasst. Aber selbst wenn er fünf Geliebte gehabt hätte, man hätte nichts darüber gewusst.«
»Wussten Sie über seine geschäftlichen Pläne Bescheid?«
»Überwiegend, ja. Vieles lief über meinen Schreibtisch. Das ging gar nicht anders. Er hat mich oft ermahnt, diese Dinge vertraulich zu behandeln. Aber ich wusste nie alles; und ich glaube nicht, dass überhaupt irgendjemand alles weiß. Als er letztes Jahr alles verkauft hat, habe ich einen Bonus von fünfzigtausend Dollar bekommen. Dewayne und Kamila haben auch Boni bekommen, keine Ahnung, wie hoch. Er hat uns gut bezahlt. Seth war ein fairer Chef, der von seinen Leuten Einsatzbereitschaft verlangt hat, sie dafür aber gut bezahlt hat. Und da ist noch etwas, was Sie über ihn wissen sollten: Seth war nicht so bigott wie die meisten anderen Weißen hier. Wir haben achtzig Mitarbeiter in diesem Betrieb, genauso viele Schwarze wie Weiße, und sie bekommen alle den gleichen Lohn. Ich habe gehört, dass es in allen seinen Möbelfabriken und Sägewerken so ist. Er hat sich nicht sehr für Politik interessiert, aber er fand es schrecklich, wie die Schwarzen in den Südstaaten immer noch behandelt werden. Gerechtigkeit war ihm sehr wichtig. Ich habe großen Respekt für ihn empfunden.« Ihre Stimme brach, und sie griff nach dem Taschentuch.
Als Jake auf die Uhr sah, war er überrascht, dass es schon fast zwölf Uhr mittags war. Er war seit zweieinhalb Stunden hier. Er sagte, dass er gehen müsse, aber Anfang der folgenden Woche mit Mr. Quince Lundy wiederkommen werde, dem vom Gericht eingesetzten Nachlassverwalter. Auf dem Weg nach draußen sprach er kurz mit Dewayne und wurde von Kamila angenehm freundlich verabschiedet.
Im Auto zurück nach Clanton gingen ihm allerlei Szenarien durch den Kopf, in denen ein Krimineller vorkam, der sich als Anwalt einer Großkanzlei ausgab, um potenzielle Zeugen ein zuschüchtern – nur wenige Tage nach dem Selbstmord und vor der ersten Anhörung. Wer auch immer der Mann war, er würde nie wieder in Erscheinung treten. Höchstwahrscheinlich arbeitete er für einen der Anwälte von Herschel, Ramona oder deren Kindern. Wade Lanier zum Beispiel. Er führte eine Kanzlei mit zehn Angestellten, die für ihre aggressiven und abseitigen Methoden bekannt war. Jake hatte mit einem ehemaligen Studienkollegen gesprochen, der oft mit Lanier zu tun hatte. Die Kanzlei war berühmt-berüchtigt dafür, gegen den Ehrenkodex zu verstoßen, dann zum Richter zu laufen und den Gegner anzuschwärzen. »Dreh denen bloß nie den Rücken zu«, hatte Jakes Freund gewarnt.
Drei Jahre lang hatte Jake eine Waffe getragen, um sich vor dem Klan und anderen Irren zu schützen. Jetzt begann er sich zu fragen, ob er nicht vielmehr Schutz vor den Haien brauchte, die es auf das Hubbard-Vermögen abgesehen hatten.
15
An Schlaf war kaum zu denken, seit Lettie immer mehr Raum an ihre Familie abgeben musste. Simeon war seit einer Woche da und nahm die Hälfte des Bettes ein. Die andere Hälfte teilte sich Lettie mit ihren beiden Enkeln. Im Nachbarzimmer auf dem Boden schliefen zwei Neffen.
Als die Sonne aufging, wurde sie wach. Neben ihr lag ihr Mann in seine Decke gewickelt und schnarchte sich das Bier vom Vorabend aus dem Hals. Sie betrachtete ihn eine Weile, ohne sich zu regen. Er wurde immer dicker und grauhaariger, dafür brachte er immer weniger Lohn mit nach Hause. Hey, Alter, es ist Zeit für einen Ausflug! Willst du nicht mal wieder auf deine unnachahmliche Art von der Bildfläche verschwinden und mir ein oder zwei Monate Verschnaufpause gönnen? Du bist hier zu nichts zu gebrauchen, außer für Sex, und mit den Kindern im Schlafzimmer kann man das auch vergessen.
Aber Simeon dachte nicht daran zu gehen. Niemand ging zurzeit von ihr weg. Immerhin musste sie zugeben, dass sich sein Benehmen in den letzten Wochen dramatisch gebessert hatte, was natürlich mit Mr. Hubbards Tod zu tun hatte. Er trank zwar immer noch jeden Abend, aber nicht mehr so viel wie
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