Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
stöhnte, drehte sich um und setzte sich schließlich auf. Er schaute in Schwester Korriyas Gesicht. Ihre Augen waren schattenumflort, und sie trug eine der Kegellampen versteckt unter ihrem Umhang. Die andere Hand hielt sie hoch, damit er schwieg. » Steh auf und zieh dich an, Kalan. Es ist Zeit, dass du uns verlässt. «
Der autoritäre Tonfall holte Kalan aus dem Bett. Er tastete nach seiner Kleidung. Fragen brannten ihm auf der Zunge, während er sich anzog, doch Schwester Korriya hatte sich bereits umgedreht, stand in der Tür und wandte ihm den Rücken zu. Kalan sah noch andere Menschen im Flur. Alle trugen Umhänge mit Kapuze. Keiner hatte ein Licht. Seine Finger hatten Schwierigkeiten mit den Verschlüssen. Er fragte sich, ob er Angst haben sollte. Die Worte des Jagdmeisters gingen ihm wieder durch den Kopf: » Eine weise Person kennt das Gesicht ihrer Feinde. «
Kalan wollte unbedingt wissen, wer seine Abreise beschlossen hatte: der Graf, der kränkliche Hohepriester oder Schwester Korriya höchstpersönlich. Doch irgendetwas an der strengen, abweisenden Haltung von Schwester Korriyas Rücken hinderte ihn daran zu fragen. Er hatte seine Stiefel halb angezogen und zögerte. Die Priesterin schaute ihn über die Schulter hinweg an. » Was, noch nicht fertig? Die Zeit ist knapp! «
» Ich bin angezogen « , sagte Kalan hastig. » Muss ich etwas mitnehmen? «
» Nicht für diese Reise « , antwortete sie. Sie ließ das Licht in das kleine Zimmer fallen, um nachzusehen, ob er nichts vergessen hatte. Dann trat sie in den Flur und bedeutete Kalan, ihr zu folgen. Die Gestalten mit den Umhängen umringten ihn, als er hinaustrat, aber niemand sprach. Jemand reichte ihm einen Umhang, den er um die Schultern legte. Dann kämpfte er wieder mit dem Verschluss. Schwester Korriya zog ihm die Kapuze über das Gesicht und nickte einmal, als ob sie zufrieden wäre, dass er von den anderen nicht zu unterscheiden war. Dann ging sie den Flur entlang. Die anderen gingen hinter ihr her. Kalan war in ihrer Mitte.
Er konnte nicht anders und musste die verhüllten, schweigenden Gestalten um sich herum ansehen. Sie erinnerten ihn an die Jäger in dem Wandbehang. Auch ihre Gesichter waren verborgen gewesen und damit ihre Identität und ihre Absicht. Kalan zitterte und erinnerte sich daran, dass Schwester Korriya gesagt hatte, dass er nichts mit auf diese Reise nehmen musste. Doch er konnte nicht glauben, dass die Priesterin ihm Schaden zufügen würde. Außerdem wäre es einfacher gewesen, seinen schlafenden Körper zu töten, während er auf der anderen Seite des Tors der Träume wandelte. Nein, beschloss Kalan, diese schweigende Reise musste ihn woandershin führen. Trotz dieser Merkwürdigkeit – oder gerade wegen ihr – spürte er ein wenig Aufregung.
Sie stiegen eine lange Treppe hinunter. Dort gab es weitere Flure und Treppen. Alle waren zwischen Finsternis und Schatten gefangen. Die Kapuzenmänner verschmolzen mit dem Halbdunkel und kamen wieder zum Vorschein. Kalan, der immer gedacht hatte, er würde jeden Stein und jede Stufe des Tempelviertels kennen, merkte jetzt, wie seltsam sogar ein vertrauter Ort aussehen konnte, wenn man ihn bei Nacht beschritt.
Nach einiger Zeit fragte Kalan sich, ob sie das gesamte Tempelviertel durchquert hatten. Schließlich führte Schwester Korriya ihn eine flache Treppe hinunter und blieb vor einer Stahltür stehen. Er spürte, wie der Blick der Priesterin auf ihm ruhte, als sie sich umdrehte, obwohl ihr Gesicht weiter in den Schatten unter der Kapuze blieb. Dann sprach sie mit leiser Stimme. » Hier ist das Ende meiner Reise, Kalan, aber nicht deiner. Diese Tür führt auf einen Dachboden über den Ställen der Burg. Dort wirst du eine weitere Treppe finden, die in die Ställe hinunterführt. Vom Stall aus musst du dir einen Weg in das unterirdische Gewölbe bahnen. Dort warten andere auf dich. «
» Welche anderen? « , fragte Kalan sich. Sein Mund war trocken, sein Herz schlug schnell und hart. » Woher weiß ich « , fragte er, » ob die, die ich treffe, Freund oder Feind sind? «
» Zwei von unserer Gruppe werden mit dir gehen « , antwortete Korriya. » Sie kennen die Passwörter und die Gesichter derjenigen, die dich erwarten. « Sie machte einen Schritt nach vorn und legte ihre Hände auf seine Schultern. Kalan zwang sich, still zu stehen, und sah in ihre forschenden Augen. Er fragte sich, wonach sie suchte und ob sie es fand. » Lass es dir gutgehen, Kalan « , sagte sie
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