Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
Traum zog sich zusammen. Die Flammen verdrehten sich ineinander, wurden allmählich blasser und drifteten dann auseinander. Sie befand sich in einem dunklen Wald. Die Wipfel der Bäume waren so hoch, dass sie den Himmel verdeckten. Mond und Sterne schienen im Netz der Äste gefangen. Ihre Füße berührten hohes Gras, das kalt vom Tau war. Um ihre Knie herum wirbelten weiße Nebelfinger. Sie stand auf einem kleinen Hügel, der über weiße Nebelbänke hinausragte. Auf allen Seiten erstreckten sich Bäume. Ein schmaler Pfad wand sich hinunter in die weiße Masse.
Malian zitterte und fragte sich, wo ihr Traum sie hingeführt hatte.
Ein leises Geräusch ließ sie herumwirbeln. Sie sah Kalan, der aus dem Nebel kam. Zunächst war er nur ein Schemen, der sich dann in eine Kreatur aus Fleisch und Blut verwandelte. » Was machst du hier? « , fragte Malian. » Ist das hier nicht mein Traum? «
Kalan runzelte die Stirn. » Ich hielt ihn für meinen. Ich sah, wie du von mir weg in den Nebel hineingingst, und dachte, ich sollte dir folgen. Es schien mir nicht sinnvoll zurückzubleiben. «
Malian hatte das Gefühl, dass da noch mehr war, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern. Skeptisch betrachtete sie den dicken weißen Nebel, der zwischen den dunklen Bäumen hing. » Nun ja, wach oder träumend – wir sind beide hier. Doch irgendetwas an diesem Ort ist merkwürdig. «
Kalan sah sich ebenfalls unbehaglich um. » Ich weiß, es ist unheimlich. Es fühlt sich an, als ob es gefährlich sein könnte, ist es aber nicht. Jedenfalls nicht im Moment. «
Malian spürte das Zerren an ihrer Aufmerksamkeit erneut. Es war gleichbleibend und unwiderstehlich. » Etwas ruft mich und bedeutet mir, dem Pfad zwischen den Bäumen zu folgen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich das tun sollte. «
» Tja, wir können nicht einfach hierbleiben. « Kalan zuckte mit den Schultern. » Und wenn das hier ein Traum ist, werden wir wahrscheinlich ohnehin dort wieder wach, wo wir angefangen haben. «
» Falls es ein Traum ist « , sagte Malian nachdenklich. Erinnerungen kehrten zurück, wie sie durch ein goldenes Tor in den Nebel trat. Sie zeigte mit dem Kinn auf den dunklen Wald. » Dann lass uns sehen, wohin uns das führt. «
Sie gingen hinunter in den Nebel, der ihnen entgegenrollte und so dicht, feucht und unheimlich weiß war, dass sie kaum den Pfad vor Augen sahen. Doch sie waren noch nicht weit gegangen, als sich das Weiße lüftete und riesige Baumstämme enthüllte, die gen Himmel ragten. Das Muster der Sterne hatte sich verändert, und auch der Mond war tiefer in das Netz der Äste gesunken.
Malian schnupperte. » Riechst du Rauch? « , fragte sie.
Kalan zeigte auf einen etwas dunkleren Nebelarm, der sich zwischen den Bäumen hindurchwand. » Da « , sagte er leise. » Ein Holzfeuer. «
Sie gingen noch langsamer weiter, spähten um die dunklen Baumstämme herum in die dichten, ineinander verwobenen Schatten. Zunächst wurde der Geruch des Holzfeuers schwächer, weil die Bäume und das Unterholz dichter wurden. Doch als der Wald sich zu einer engen, mondbeschienenen Lichtung öffnete, nahm er wieder zu. In der Mitte der Lichtung brannte ein Feuer. Daneben saß eine in einen dunklen Kapuzenumhang eingewickelte Gestalt. » Ihr dürft näher kommen « , bot die Gestalt ihnen an, ohne sich umzudrehen. Die Frauenstimme war tief, deutlich und angenehm. » Es ist ziemlich sicher hier. «
Die Stimme war vertrauenerweckend, aber Malian und Kalan waren unter Derai aufgewachsen und wussten, dass Feinde in zahlreichen Verkleidungen daherkamen. Viele davon waren oberflächlich betrachtet hübsch anzusehen. Sie wollten das unter der dunklen Kapuze verborgene Gesicht – wenn es eines gab – ansehen, bevor sie sich näherten. Als ob sie ihre Gedanken erraten hätte, hob die Frau ihre Hände und schlug die Kapuze zurück. Das Gesicht, das zum Vorschein kam, war zweifellos Derai. Ein Netz aus winzigen weißen Sternchen bändigte ihr Haar. Das Mondlicht schien auf hohe Wangenknochen, einen kräftigen Kiefer, im Schatten liegende Augen und ein humorvolles Lächeln, das den Mund der Frau umspielte. » Willkommen an meinem Feuer « , sagte sie und klopfte mit der Hand auf den Boden. » Setzt euch. Ich wünsche, eine Weile mit euch zu sprechen, bevor der Mond abnimmt. «
Malian setzte sich auf der gegenüberliegenden Seite ans Feuer. Kalan nahm neben ihr Platz. Die rosa- und orangefarbenen Flammen tanzten zwischen ihnen und der unbekannten Frau. »
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