Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
der Anführer alleine übrig blieb. Seine Gegner kamen immer näher, stießen Kampfschreie aus und waren bereit, ihn niederzuschlagen. Im nächsten Moment verschwand er und zwinkerte unter ihren Schwertern hindurch. Die Angreifer heulten auf, und auch Malian zog überrascht den Atem ein.
Die Flammen wirbelten vor ihren Augen. Dann teilten sie sich erneut und zeigten eine neue Szene an einem anderen Ort. Ein Mond ging blassgolden über einer Welt aus gedeckten Dächern, die von eleganten Turmspitzen unterbrochen wurden, auf. Malian fühlte sich, als ob sie über ihnen flöge: Sie sprang von Hausdach zu Hausdach und war von wildem Übermut erfüllt, obwohl sie verfolgt wurde. Allerdings wusste sie nicht, wer sie verfolgte und warum.
Der Mond nahm zu, bis er von kräftigem Gold war, dann nahm er ab und wurde blass und kalt. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Malian stand darunter an einem einsamen Ort und wartete auf etwas oder jemanden. Sie wusste, dass es Herbst war, die ausklingende Jahreszeit. Sie rief, doch nur Schweigen antwortete ihr. Ein Nebelschleier trieb vor den abnehmenden Mond und verschluckte ihn. Als er erneut erschien, war er ein Tageslichtmond und hing über einer gepflasterten Straße, die sich durch graue Hügel wand. Ein langer Zug aus Pferden und Menschen, Wagen und Sänften kroch über die Straße; Flaggen wehten knatternd über den Köpfen, und lange, schmale Wimpel rollten sich im Wind zusammen und wieder auseinander.
Malian erkannte die Bedeutung der Wimpel: Es handelte sich um eine Hochzeitskarawane der Derai, die einen Nachkommen des Blutes zu seiner Braut oder ihrem Bräutigam brachte. Sie bemerkte einen Wagen, der von fluchenden Bediensteten aus dem Schlamm gegraben wurde, und schwebte näher heran. Eine der Wachen, die gefütterte Lederkleidung und ein Kettenhemd trug, runzelte die Stirn und schaute in den bleigrauen Himmel. Dabei wischte der Mann seine Hände an den Lederhosen ab.
Malian riss die Augen auf, denn obwohl er ein paar Jahre älter und wesentlich grimmiger war, hatte der Krieger Kalans Gesichtszüge. Sie war so überrascht, dass sie in die Höhe, fort von der Straße schoss. Erneut umschloss das Feuer ihren Sichtbereich. Als sie sich zurückzog, stand sie in einem Raum, der mit purpurnen Wandbehängen im Derai-Stil geschmückt war. Eine junge Frau in einer juwelenbesetzten, purpurnen Robe mit einem schüchternen, hübschen Gesicht sah sie überrascht an. » Wer seid Ihr? « , fragte sie. » Was macht Ihr hier? « Ihre Stimme klang ungerührt, doch Malian erkannte, dass sie Angst hatte.
Malian öffnete den Mund, um zu antworten, doch die Flammen entrissen ihr den Raum und zeigten ihr stattdessen eine Straße aus Kopfsteinpflaster, die sich durch Nebel wand. Der Körper eines Kriegers lag mit dem Gesicht nach unten auf den nassen Kopfsteinen. Seine Rüstung war blutig, und er hatte seinen Helm verloren. Eine Wolke aus schwarzem, blutverklebtem Haar lag über seinen Schultern und auf der Straße und umgab sein Gesicht. Die bäuchlings liegende Gestalt rief nach Malian. Diese wollte unbedingt das Haar hochheben, das das Gesicht verdeckte. Sie streckte eine Hand aus und wartete ungeduldig auf den Moment des Erkennens.
Die Flammen schlugen gleißend hoch, rasten über die Kopfsteine und den Krieger und spülten Malian mit fort. Die Feuersbrunst brannte sowohl in ihren Adern als auch in ihrem Geist. Sie fürchtete, dass sie jetzt endgültig verschlungen werden würde. Dennoch war ihr bewusst, dass sie immer noch an Yorindesarinens Feuer saß und verträumt in dessen Herz starrte. Malian versuchte, sich durch ihren Willen wieder zurückzuholen, doch das Feuer loderte erneut auf und schlug nach ihr. Sie verschloss die Augen vor der sengenden Hitze. Blind streckte sie ihre Hände aus und versuchte, sich zu schützen. Verzweifelt fragte sie sich, ob Kalan und Yorindesarinen etwas bemerkten, bevor es zu spät war. Dann packten zwei Hände mit beruhigender Stärke die ihren.
12 Am Feuer der Heldin
Malian riss die Augen auf und sah auf die in Lederhandschuhen steckenden Hände, die ihre festhielten. Dann sah sie hinauf zu dem Gesicht, das aus den Flammen darüber auftauchte. Sie erkannte das Gesicht, obwohl sie den Neuankömmling nur einmal vorher gesehen hatte. Es war schmal, hatte glatte Flächen und dunkle, leidenschaftliche Augen. » Was macht Ihr hier? « , fragte sie den Herold Tarathan von Ar. Der Herold trat vollends aus dem Feuer und schaute auf sie hinab. Er schien
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