Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
erstarrten Tintengrab und öffnete es; es schien ihm der letzte der Fehlversuche zu sein, die den Tisch bedeckten.
Richtig. Eine Handbreit grauenhaft gekritzelten Textes war zu sehen. Er versuchte ihn zu entziffern. Unwillkürlich seufzte er. Latein!
O salutaris hostia, quae caeli pandis hostium, non confundar in aeternum …
Melchior blickte überrascht auf. Seine Lippen bewegten sich mit dem Versuch, die Übersetzung aus seinem Gedächtnis zu befreien. Wann hatte er diese Worte zuletzt gehört? Bei seiner Kommunion …? Du lieber Gott, wie lange war das her! Man hatte sie ihnen eingebläut, und der alte Kardinal Melchior hatte sie lächelnd übersetzt, während sein junges Taufkind sich darüber beschwert hatte, etwas nachplappern zu müssen, dessen Sinn es nicht kannte.
Der Du am Kreuz das Heil vollbracht und uns die Himmelstür geöffnet hast …
… libera me de morte aeterna!
… errette mich vom ewigen Tod!
Melchior las weiter, während seine Augenbrauen sich zusammenzogen. Das war nicht mehr der Text des Morgenhymnus!
Confiteor Deo omnipotenti…
Ich gestehe zu Gott dem Allmächtigen …
… quia peccavi nimis …
… dass ich gesündigt habe …
… cogitatione, verbo et opere!
… in Gedanken, Worten und Werken!
Nil inultum remanebit!
Nichts kann vor der Strafe flüchten!
Das war aus dem Hymnus vom Jüngsten Gericht! Dafür musste Melchior nicht in seiner Erinnerung kramen; er würde die Worte ewig erkennen. Sie waren in der Kirche gesungen worden, als der alte Kardinal Melchior den Trauergottesdienst für Cyprian Khlesl gehalten hatte und der König von Böhmen so unverhofft in die Kirche geplatzt war. Es war ein Lied … für einen Toten.
Er schob den Stuhl zurück, dass dessen Beine laut über den Boden schrappten. Der letzte Eintrag stach förmlich aus dem Papier hervor, mit verspritzender Tinte geschrieben, das Papier zusammengeknüllt, noch bevor sie trocken war, zweiWorte, die aussahen wie schwarze Blutspritzer auf einer weißen Wand.
Kyrie eleison!
Herr, erbarme Dich!
Melchior stürzte aus dem Raum und rannte quer über den Flur zu der Tür, hinter der er die Schlafkammer des Ordensmeisters wusste. Er versuchte, sie aufzustoßen. Etwas hinderte ihn daran, als lehne sich jemand von der anderen Seite dagegen. Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Sie gab plötzlich nach. Er taumelte in den Raum hinein.
Ein schwerer Körper warf sich auf ihn. Melchior krallte sich an ihm fest und versuchte, ihn mit sich zu Boden zu ziehen, aber stattdessen hielt der Unbekannte ihn aufrecht. Dann erkannte er die Wahrheit, und entsetzt ließ er los. Er plumpste auf den Hosenboden und starrte voller Grauen nach oben in das Gesicht seines Angreifers.
Nil inultum remanebit.
Melchior rappelte sich auf. Er schüttelte das Gefühl ab, dass die offenen Augen seine Bewegungen verfolgten. In Wahrheit sahen sie durch alles hindurch, was mit der Welt der Lebenden zu tun hatte, und dem Gesichtsausdruck des Toten nach zu schließen fiel ihr Blick direkt in die Hölle. Melchior blickte nach oben. Der Strick war um einen Eisenhaken geschlungen, der in einem Deckenbalken steckte. Er war kurz. Die Fußspitzen des Erhängten berührten den Boden. Ein umgeworfener Stuhl lag einen Schritt entfernt, so wie er gefallen wäre, wenn jemand auf ihn gestiegen, den Strick befestigt, sich die Schlinge um den Hals gelegt, sie zugezogen und den Stuhl dann mit den Füßen weggezogen hätte. So, wie er gefallen war .
Melchior fühlte, wie der Inhalt seines Magens in ihm hochstieg, doch er schluckte ihn hinunter. Er wusste nicht, ob er Mitleid oder Zorn empfinden sollte. Schließlich flüsterte er: »Herr, erbarme Dich«, weil ihm nichts Bessereseinfiel als der letzte, gekleckste, verwischte Aufschrei des Ordensmeisters. Er schüttelte den Kopf. Dann wurde ihm bewusst, dass er den Mann nicht so hängen lassen konnte, und sein Magen revoltierte erneut, bis er ihn unter Kontrolle brachte.
Das Rapier war scharf. Melchior wusste, dass sein Vater die Waffe missbilligte. Wenn all die Geschichten über Cyprian Khlesl stimmten, konnte man die Gelegenheiten, an denen er nach einer Waffe gegriffen hatte, um sich selbst oder jemand anders zu verteidigen, an den Fingern einer Hand abzählen. Der Stahl schnitt das Seil durch, und der Körper des Ordensmeisters fiel zu Boden. Melchior schlug das Bett auf, schleifte den Leichnam davor, und mit einiger Anstrengung schaffte er es, ihn auf das Bett zu zerren. Hastig versuchte er die
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