Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Fenster im Gang war. Das Licht reichte, um Einzelheiten zu erkennen: die schwarze, kalte Öffnung des Kamins, wo ein Feuer hätte brennen sollen, die Unordnung auf dem Boden. Zerknüllte Blätter lagen auf dem Tisch. Melchior hielt den Atem an, als er die stumpffarbene Lache sah, die die Hälfte des Tisches bedeckte, dann schnupperte er vorsichtig. Es war kein Blut. Er sah ein tönernes Tintenfass umgekippt dort liegen, wo die Lache ihren Anfang nahm. Ein Gänsekiel klebte in der angetrockneten Tinte fest, aufgebäumt wie ein Schiff, das auf Grund gelaufen ist. Der Stuhl war zurückgeschoben; ein Mantel mit Pelzkragen hing schlampig darüber. Ein mattes Blinken fiel Melchior ins Auge. Auf dem Pelzkragen war eine Brosche angebracht, ein schwarzes Wappen, auf dem sich in Rot ein Malteserkreuz mit einem sechszackigen Stern darunter abhob. Melchior hätte es nicht gebraucht, um in dem Mantel mit dem teuren Kragen die Robe des Ordensmeisters der Kreuzherren vom Roten Stern zu erkennen. Weshalb die Egerer Kommendeso unerwartet verlassen war, wo er vor zwei Tagen noch mit dem Ordensmeister gesprochen hatte, machte ihn ratlos. Er betrat die Arbeitsstube, legte den Hut auf eine saubere Stelle des Tisches und sah sich um. Sicher, der Ordensmeister hatte bei Melchiors erstem heimlichen Besuch nicht unbedingt wie ein Mann gewirkt, der die Dinge im Griff hatte. Aber dass er die Kommende im Stich gelassen haben sollte, zusammen mit allen Dienstboten? Der Oberste einer Kommende war wie ein Kapitän auf einem Schiff – sollte die Kommende beispielsweise in Flammen aufgehen, wurde eigentlich erwartet, dass sich nachher bei den Aufräumarbeiten die Leiche des Komturs fand, der bis zuletzt geblieben war. Hatten die Besatzer ihn gefangen genommen? Doch weshalb hätten sie das tun sollen, wenn sie ihn die ganzen Jahre, als die Besatzung nur aus einem kläglichen Häuflein schwedischer Soldaten in der Burg bestand, auch nicht als Gefahr angesehen hatten?
Hatten sie ihn und den kümmerlichen Rest seiner Dienstboten in den Dienst gepresst? Melchior hatte unter anderem dieses Risikos wegen die Stadt verlassen, kaum dass er sein Gespräch mit dem Ordensmeister beendet hatte. Wer sich weigerte, mit den Soldaten zu ziehen, lief Gefahr, an Ort und Stelle aufgeknüpft zu werden. Einige der Egerer Bürger hatten das offensichtlich ebenso wie Melchior erkannt und sich aus der Stadt gestohlen; Melchior hatte sich ihnen angeschlossen, und sie hatten ihn mitgenommen zu einer Reihe von versteckten Rindenkobeln im Wald, die, wie Melchior vermutete, in Friedenszeiten als Unterschlupf für Wilderer gedient hatten (vermutlich den Vätern der jungen Männer, in deren Begleitung er sich befand!). Ein Gutes wenigstens konnte man von Zeiten wie diesen sagen: Es schweißte diejenigen, die darunter litten, unter Umständen näher zusammen. Er hatte es zwei Tage dort ausgehalten, dann war die Ungewissheit zu groß geworden, und er hatte sich zurücknach Eger gestohlen. Er musste wissen, ob Pater Silvicola und seine Gefangenen schon dort angekommen waren – und ob der Ordensmeister mutig genug gewesen war, Melchiors Bitte zu erfüllen und seiner Mutter das Äskulap-Medaillon heimlich zu geben, um ihr damit zu signalisieren, dass es ihm gut ging und dass er in der Nähe war.
Das sich langsam erhellende Arbeitszimmer gab keine Antwort auf Melchiors Fragen. Er stocherte mit dem Kaminbesteck in der Asche und stellte fest, dass sie durch und durch erkaltet war. Hier hatte mindestens seit gestern kein Feuer mehr gebrannt. Er setzte sich in den Stuhl, der hinter dem Tisch stand, und schob ihn näher heran. Dabei schnupperte er am Kragen des Mantels. Er roch nach Schweiß und Wein. Aus dieser Position konnte man erkennen, was sich zuletzt hier abgespielt hatte. Der Ordensmeister hatte versucht, etwas aufzuschreiben. Er musste in Eile gewesen sein, denn die in der Tinte festgeklebte Schreibfeder war über und über voller schwarzer Fingerabdrücke. Der Schreiber hatte sich die Finger bekleckert und nicht die Mühe gemacht, sie sauber zu wischen. Die Papierknäuel lagen auf dem Tisch wie halb geöffnete Fäuste. Melchior hatte noch nie eine solche Verschwendung gesehen. Selbst wenn man sich noch so sehr auf einem Blatt Papier verschrieb, konnte man es immer noch abschaben und dann quer zu den vorherigen Zeilen schreiben. Papier war fast so teuer wie Gold. Er pflückte das am wenigsten zerknüllte und am meisten mit Fingerabdrücken übersäte Knäuel aus seinem
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