Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
tatsächlich geholt«, sagte Wenzel und ging neben dem Toten in die Hocke. Er hätte selbst nicht sagen können, warum er es tat. Sein Blick fiel auf zwei tote Ratten, die neben dem Leichnam auf dem Boden lagen. Wenn er richtig sah, hatten sie versucht, aus dem weichen Fleisch des Armes nahe der Achsel etwas herauszubeißen. Ihre Körper sahen gebläht aus, die Zähne waren noch im Tode gebleckt, die Zungen hervorgequollen. Er zupfte an einem der Lumpen, mit denen der Mann sich vor der Kälte zu schützen versucht hatte, als er noch am Leben gewesen war, und riss einen Streifen davon ab. Mit ihm als Schutz pflückte er das kleine Fläschchen aus der starren Hand. Seine Augen suchten den Boden ab, und richtig – da war ein kleiner Stopfen, der auf die Öffnung der Flasche passte. Mithilfe des Lumpens hob er auch ihn auf, verkorkte das Fläschchen, umwickelte es zur Hälfte und hielt es dann gegen das trübe Licht von den Fenstern. Ein wenig Flüssigkeit war darin geblieben, Flüssigkeit, die weder gefroren noch verdampft war. Er wickelte den Lumpen ganz darum, riss einen weiteren ab, umwickelte es noch mehr und ließ es zuletzt in seiner Kutte verschwinden. Dabei versuchte er das Gefühl zu unterdrücken, dass er eine schlummernde Schlange in die Tasche geschoben hatte. Als er aufstand, wichen die Mönche noch weiter zurück. Er schüttelte den Kopf. »Damit meine ich«, sagte er ungeduldig, »dass er Gift getrunken hat. Entweder weil es ihm jemand untergeschoben hat oder weil er sich selbst den Tod geben wollte. Und dass er in Schmerzen gestorben ist.«
»Warum hast du das Fläschchen eingesteckt, ehrwürdiger Vater?«
»Man kann nie wissen.«
30.
Melchior Khlesl wurde klar, dass etwas nicht stimmte, als er die offene Eingangstür sah. Er blickte sich in der fahlen Morgendämmerung um, aber die abseitsgelegene Gasse war menschenleer. Von anderswoher drang der Schritt von Wachen, die ihre letzte Runde machten – weit genug weg. Vorsichtig drückte er die Tür ganz auf, huschte hinein und verschmolz mit der Dunkelheit. Er konnte die Leere des Hauses förmlich hören. Kein Haus, in dem noch jemand lebte, war jemals so still. Vorsichtig stieß er den Atem aus und sah das Dampfwölkchen im vagen Licht schimmern, das von der Türöffnung hereindrang. Und es war auch in keinem Haus, in dem noch jemand lebte, so kalt. Was war geschehen, seit er zum letzten Mal hier gewesen war? Er orientierte sich im Halbdunkel, maß die Schritte bis zur großen Treppe ab, dann schloss er sanft die Eingangstür. Er verzichtete darauf, den Riegel vorzuschieben – sollte eine schnelle Flucht nötig sein, würde ihn der Riegel nur aufhalten. Mit dem Schließen der Tür wurde die Dunkelheit vollkommen. Mit seinem Hut in der Linken wegen der niedriger werdenden Decke des Treppenhauses und mit der Rechten auf dem Griff seines Rapiers schlich er nach oben. Er hörte die Sporen an seinen Stiefeln sanft klingeln und verfluchte sich dafür, dass er sie nicht abgelegt hatte. Aber wie hätte er ahnen sollen, dass er sich hier statt des erwarteten Willkommens hereinschleichen musste wie ein Dieb? Die Treppe gab ein leises Knarzen von sich. Er drückte sich an die Wand, wo die Stufen am stabilsten waren, und schob sich an ihr entlang weiter zum oberen Treppenabsatz. Von den beiden Fenstern, die er nun im Rücken hatte, sickerte die Dämmerung herein. Ein kurzer Flur führte zu einer stirnseitig gelegenen Tür – die Schlafkammer. Die Doppeltür links verbarg den großen Saal, ein Überbleibsel aus früheren Zeiten wie in den meisten Patrizierhäusern, dieseit Generationen bewohnt wurden. Rechtsherum ging es zu einer weiteren, nahe bei den Fenstern gelegenen Tür. Hinter ihr lag das Arbeitszimmer. Während die anderen Türen geschlossen waren, stand diese einen Spalt breit offen.
Melchior musterte die Holzbohlen auf dem Boden, seine schweren Stiefel mit den hohen Absätzen, die Sporen. Es half nichts. Wenn er versuchte, das enge, hohe, vom vielen Tragen feuchte Schuhwerk hier auszuziehen, würde er Lärm für drei machen. Er stakte auf Zehenspitzen zum offenen Türspalt und spähte hinein. Einen Augenblick fühlte er sich versucht, den ältesten Trick der Welt anzuwenden und zuerst seinen Hut um die Kante der Tür herumzuschieben, aber er ließ es bleiben. Mittlerweile war er davon überzeugt, dass seine erste Vermutung zutraf: Er war hier völlig allein. Wo waren alle?
Das Arbeitszimmer besaß ein Fenster, das die Zwillingsschwester der beiden
Weitere Kostenlose Bücher