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Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman

Titel: Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Duebell
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sie.

5.
    František Biliánová sass im Pfarrhaus und starrte die Wand an. Er konnte sich kaum erinnern, ob es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der er nicht die Wand angestarrt hatte.Ihm war, als ob es für ihn nur noch diese Wand gäbe und hinter der Wand keine Welt.
    Das Kind lag in der Wiege und starrte ebenfalls. Es starrte ihn an. Er konnte seinem Blick nicht begegnen. Wann immer er es versuchte, dachte er: Deinetwegen ist Popelka gestorben. Dann kam der Gedanke: Du bist alles, was mir von Popelka geblieben ist. Und dann überwältigte ihn der Kummer, weil er ihr Gesicht sah, wenn er in das des Kindes blickte.
    Es war zu viel für einen Mann. Er liebte dieses Kind mit jeder Faser seines Herzens. Und er wusste, dass er verrückt würde, wenn es noch ein paar Tage länger in seiner Nähe war.
    Er starrte die Wand an.
    »Ich gehe dann, Hochwürden«, sagte eine Stimme. Er drehte sich nicht um, sondern nickte nur. Nicken war eine Kraftanstrengung. Alles in ihm wollte den Kopf schütteln: darüber, was aus ihm geworden war, darüber, wie sehr Gott ihn gestraft hatte, darüber, was denn nun sein Platz in der Welt war, darüber, ob es überhaupt noch einen Platz für ihn auf der Welt gab.
    Die Frauen des Dorfes wechselten sich ab dabei, sich um das Kind zu kümmern. Wer selbst ein Neugeborenes hatte, kam zum Stillen. Wer einen Lumpen übrig hatte, brachte ihn vorbei, um das Kind hineinzuwickeln. Wer eine Stunde Zeit übrig hatte, setzte sich vor die Wiege, schaukelte sie und sang dem Kind vor. Die Wiege war das Geschenk einer Familie, die inbrünstig hoffte, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekämen und Gott den Hinweis verstünde, wenn sie die Wiege verschenkten. Alles in allem reichte es gerade aus, um das Kind am Leben zu erhalten. Das Merkwürdige daran war: Dem Kind schien es zu genügen. Mit dem Wenigen, das es bekam, gedieh es. Es schrie kaum, außer wenn es großen Hunger hatte oder wirkliche Beschwerden. Ansonsten schienes zu warten. Pfarrer Biliánová wusste nicht, worauf. Er wusste auch nicht, worauf er selbst wartete. Wenn jemand ihm gesagt hätte, dass am Ende seines Wartens der Tod stand, hätte es ihm kaum etwas ausgemacht. Wenn ihm jemand sagte, dass am Ende seines Wartens ein neuer Tag beginnen und die Sonne wieder scheinen würde, glaubte er es nicht. Die Dorf bewohner sagten es ihm wieder und wieder. Er reagierte nicht mehr darauf. Wer in seinem Schmerz erstickt, der glaubt nicht, dass jemand anderer diesen Schmerz nachvollziehen kann, geschweige denn ihn selbst schon durchlitten hat. Viele von den Dorf bewohnern waren mit dem Schmerz vertraut, aber Pfarrer Biliánová sprach ihnen dieses Wissen ab. Wer leidet, kann sich nicht vorstellen, dass noch jemand so leidet wie er.
    Er hörte die Schritte den kleinen Raum durchmessen und zur Tür poltern. Die Tür öffnete sich. Die Tür schloss sich. Er und das Kind waren allein. Oder besser gesagt: Er war allein, und dann war da noch das Kind. Er hätte nicht sagen können, welche von den Frauen hier gewesen war. Hinter seinen Augen brannten die Tränen. Er ließ ihnen freien Lauf. Das Kind blickte ihn unverwandt an.
    Es gab einen Laut von sich. Es hörte sich an wie das Glucksen, das es machte, wenn jemand in sein Blickfeld trat und zufällig den Augenblick erwischt hatte, kurz bevor es aus Hunger zu schreien begann.
    Pfarrer Biliánová blickte auf. Niemand war im Raum. Die Wiege bewegte sich sachte, als kleine, dünne Ärmchen in der Luft herumfuhren. Es war die ruckartige, ungezielte Bewegung, die er schon öfter gesehen hatte, wenn eine der Frauen kam und ihrerseits die Arme ausstreckte, um das Kind herauszunehmen. Langsam stand der Pfarrer auf. Das Kind gluckste und krähte. Er schlurfte an die Wiege heran und starrte hinein. Das Kind sah an ihm vorbei. Es sah immer an ihm vorbei, aber heute wirkte es, als ob …
    Er wirbelte herum. Niemand stand hinter ihm. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Das Kind gluckste erneut.
    Eine Faust pochte an die Eingangstür, und Pfarrer Biliánová schrie vor Schreck auf. Das Kind zuckte zusammen. Der Pfarrer sah auf seine Hände hinab. Sie zitterten. Er fuhr sich durch das Haar. Die Faust pochte ein zweites Mal an die Tür.
    »Geh weg«, flüsterte er, ohne dass er es bemerkte.
    »Hochwürden?« Es war die Stimme eines Mannes. Er kannte sie nicht. »Hochwürden? Pfarrer Biliánová? Sind Sie zu Hause?«
    Der Weg zur Tür war lang. František Biliánová ging, als hätte er Eisenketten an den Füßen. Er

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