Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
hat. Er glaubte daran, dass Gottes Schöpfung das Gleichgewicht sei: Schönheit gibt es nur im Vergleich mit dem Hässlichen, Leben gibt es nicht ohne Tod … beides hat jeweils seine Berechtigung. Wenn es zu viel Schatten gibt, erfriert die Welt. Wenn es zu viel Licht gibt, verbrennt sie.«
»Ich dachte immer, die Ansammlung von Wissen sei sein einziger Antrieb gewesen.«
»Vielleicht hat er so begonnen, bis er erkannte, dass Wissen allein nicht für das Gleichgewicht sorgt. Wenn mein Traum mir die Wahrheit zeigte, dann war er am Ende überzeugt, die Aufgabe von uns Menschen liege in der Erhaltung des Gleichgewichts. Deshalb hat Gott uns drei Fähigkeiten gegeben, die sonst kein anderes Lebewesen hat: den Glauben, die Liebe und die Hoffnung. Sie sind unsere Waffen im Kampf um das Gleichgewicht. Das wollte er uns mit der Teufelsbibel sagen. Er zeigte es uns in Zeichen, wie es für seine Zeit üblich war. Das Bild des Teufels gegen das der göttlichen Stadt, die wissenschaftlichen Texte gegen die voller Glauben, die einheitliche, gleichmäßige Schrift … und die Größe des Buches, weil er seine Erkenntnis für die größte hielt, die es gibt.«
»Aber wie konnte daraus die Teufelsbibel werden?«
»Weil er in seinen letzten Momenten überzeugt war, ausVersehen ein Monstrum erschaffen zu haben. Er hatte sich von den jungen Novizen, die im Kloster lebten, helfen lassen, das Buch fertigzustellen. Einer von ihnen muss etwas missverstanden haben – oder der Mönch selbst glaubte, missverstanden worden zu sein … Er fand einen Text, der nach seiner Meinung alles umdrehte, was er beabsichtigt hatte. Wer ihn las, zog daraus den Schluss, dass das Gleichgewicht erkämpft werden müsse, dass es nicht der Ausgleich zwischen Licht und Schatten sei, sondern nur durch die Ausrottung des Bösen erlangt werden könne, dass alles vernichtet werden müsse, was anders ist, dass das Gleichgewicht nicht die Balance der Vielfältigkeit ist, sondern die Einheit.«
Agnes fühlte wieder das Entsetzen des Mönchs, das auch sie in ihrem Traum gepackt hatte. Sie bemühte sich, Andrej nicht merken zu lassen, wie mächtig die Erinnerung daran immer noch war.
»Was immer er getan hat, er hat dieses Buch als seine persönliche Sühne empfunden, und als er dachte, es sei pervertiert worden, brach er zusammen. Vielleicht konnte er den anderen Mönchen noch etwas zuflüstern, bevor er starb. Ich weiß es nicht. Er muss überzeugt gewesen sein, dass der Teufel sich in sein Werk eingemischt hatte, um es zu verderben. Letztlich ist er an drei Dingen gescheitert: Er hatte nicht genug Liebe in sich, um zu vertrauen, dass die Liebe immer gewinnen wird, nicht genug Glauben an die Kraft seiner eigenen Erkenntnis – und daraus folgend keine Hoffnung auf die Zukunft.«
»Aber es gibt so viele Menschen, die ebenso schwach sind …«
»Und deshalb ist die Teufelsbibel am Ende tatsächlich das Vermächtnis des Satans. Der Kampf gegen die Andersartigkeit – das ist in Wahrheit der Krieg, den das Gute gegen das Böse zu führen glaubt, ohne zu merken, dass es dadurch selbst das Böse geworden ist. Bis wir Menschen dies nichtüberwunden haben, sollte niemand das Original der Teufelsbibel in die Hände bekommen.«
»Aber wir haben sie Ebba Sparre mitgegeben für die Königin von Schweden.«
»Sicher, doch ich habe natürlich die drei Seiten mit der Textstelle …« Agnes verstummte und starrte ihren Bruder an.
»Haaa-rumph«, machte Andrej und grinste.
»Steig ein, großer Bruder«, sagte Agnes. »Steig ein, bevor ich mich vergesse.«
Die Kutsche fuhr wieder an, durch die weiten, rollenden Hügel Böhmens. Agnes schaute aus dem Fenster und bildete sich ein, in der Luft um sie herum immer noch das Glitzern der Asche wahrzunehmen. Der Wind flüsterte, die Blumen bildeten Muster. Es war leicht, sich einzubilden, in dem Flüstern eine ehemals vertraute Stimme zu hören, aus den sich ständig verändernden Mustern Bilder herauszusehen … ein Augenzwinkern … ein Lächeln …
Cyprian war Agnes’ andere Hälfte gewesen. Nun war ein Loch in ihrem Herzen, so groß wie die Welt, aber auch Cyprians Tod hatte nicht vermocht, aus ihr wieder jenen unvollständigen, angstvollen Menschen zu machen, der sie gewesen war, bevor ihre Liebe sich erfüllt hatte.
Das war sein Geschenk an sie gewesen. Auch er hatte den Preis seiner Liebe bezahlt.
Agnes blickte hinaus, auf die Hügel, auf die Blumen, auf die Gestalt gewordene Hoffnung.
Auf Wiedersehen, Cyprian , dachte
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