Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Brot stillen können; er hätte jederzeit einen Schluck Wasser gegen den brennenden Durst nehmen können. Brot und Flasche waren unberührt, seit er sie eingesteckt hatte. Er legte sie achtlos beiseite.
In einer anderen Tasche fand er zwei identische kleine Becher aus Zinn, für nicht viel mehr gut als für je einen kleinen Schluck. Seine Hände zitterten so stark, dass er sie beide brauchte, um die Becher auch nur aufstellen zu können. In derselben Tasche fanden sich auch zwei kleine, dunkle Glasfläschchen. Er entkorkte sie. Mit äußerster Konzentration goss er aus dem einen Fläschchen den einen Becher voll und wiederholte die Prozedur mit der zweiten Flasche beim zweiten Becher. Dann verschloss er die Fläschchen und steckte sie wieder ein. Mit geschlossenen Augen sagte er das Vaterunser auf und vertauschte dabei die Becher wieder und wieder, bis er wahrhaftig nicht mehr hätte sagen können, wer welcher war. Er öffnete die Augen und starrte die Becher an. Dann hob er den Blick zum Tabernakel.
»In Deine Hände, Herr«, flüsterte er. »Sende mir ein Zeichen, ob ich auf dem richtigen Weg bin.«
Er nahm, ohne weiter zu zögern, einen der Becher und leerte ihn mit einem Schluck. Der Inhalt floss seinen Hals hinunter wie Ambrosia. Er hustete. In seinen Körper fuhr ein plötzlicher stechender Schmerz. Er stierte den übrig gebliebenen Becher an. Der Schmerz rotierte in seinem Magen und zog seine Eingeweide zusammen. Er hob den Blick und starrte das Deckenfresko mit der Abendmahlszene an: Jesus, der einen Becher in der Hand hielt, und einer der Jünger, der danach griff. Er hatte den Stiftsprobst darüber referieren hören; das Stift war sich nicht einig, welchem Apostel Jesus den Becher reichte. War es Johannes, der Bruder des Herrn und sein Liebling? Oder Judas, der ihn verraten würde? Der Becher auf dem Fresko schien sich aufzublähen und zu wachsen, biser Pater Silvicolas Blickfeld ausfüllte. Auf einmal erinnerte er sich, dass er zählen musste. Eins … zwei … drei …
Der Schmerz rann durch seine Därme und brach sich mit einem Wind Bahn, der nach dem Auswurf der Hölle stank.
Pater Silvicola zählte weiter.
Das Gift wirkt schnell, Pater, hörte er die Stimme des Apothekers in Rom. Wenn Sie bei zwanzig angekommen sind und die Ratten leben immer noch, haben Sie es mit Salz verwechselt, hahahaha …!
… zwölf … dreizehn … vierzehn …
Zwanzig Sekunden also für eine Ratte? Dann wären es bei einem Hund … zweihundert Sekunden? Oder bei einem Menschen … zweitausend?
Nein, nein, Pater, so kann man das nicht rechnen. Bei einem Menschen …? Sechzig Sekunden. Allerhöchstens. Wenn Sie glauben, Ihren Braten gesalzen zu haben, und er schmeckt überhaupt nicht nach Salz, dann haben Sie eine Minute Zeit, es zu bereuen, dass Sie das Gift gleich neben das Salz in den Schrank gestellt haben. Hahahaha …!
…neunundzwanzig … dreißig …
Der Schmerz in seinem Körper verebbte. Sein Magen drehte sich gurgelnd einmal um. Statt des Schmerzes schoss ein so großes Hungergefühl in ihm hoch, dass er sich zusammenkrümmte.
Als er bei sechzig angekommen war, hörte er auf. Er nahm den stehengebliebenen Becher mit spitzen Fingern und trug ihn auf Beinen aus Werg vor die Kirche, taumelte um den Bau herum und schüttete den Inhalt des Bechers in den Main. Dann hockte er sich ächzend nieder und wusch den Becher im eiskalten Flusswasser aus. Zurück in der Kirche, trocknete er beide Becher mit einem Zipfel seines Mantels ab und steckte sie zurück in die Tasche zu den Fläschchen.
»Ich danke Dir, Herr«, sagte er. Speichel, von dem er schon nicht mehr gedacht hatte, dass sein Körper ihn noch produzierenkönnte, lief ihm im Mund zusammen. Er nahm das Brot vom Altar, brach achtlos das Stück mit dem schlimmsten Schimmel ab und biss dann gierig hinein. Es schmeckte wie Hundekot. Es schmeckte besser als jedes andere Essen, das er je genossen hatte.
Ohne dass es ihm bewusst war, torkelte er auf dem Weg zum Kirchenportal in einer immer enger werdenden Kurve durch das Kirchenschiff, prallte weitab von der Türöffnung gegen die Wand und sank daran zu Boden. Die Welt wurde schwarz um ihn herum.
Er kam wieder zu sich, weil jemand ihn rüttelte.
»Pater Silvicola?«
Er kniff die Augen zusammen. Ein Jesuit starrte ihm besorgt ins Gesicht; der Mann gehörte zu der Kongregation, die von Fürstbischof Johann Philipp beauftragt worden war. Pater Silvicolas ausgetrocknetes Gehirn mühte sich vergeblich, den Namen
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