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Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman

Titel: Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Duebell
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noch lebten, obwohl sie eigentlich tot waren.
    Unwillkürlich blickte er sich um. Die Feuerstelle war nicht mehr zu sehen. Die Dunkelheit hinter ihnen war genauso groß wie die, in die der Junge sie führte.

22.
    Der Raum musste früher das Refektorium des Klosters gewesen sein. Er war geräumig, hallend, ein Saal mehr denn ein Raum, und vor allem: Er war intakt. Nur eine Seite besaß Fenster, die nach Andrejs Erinnerung zur Flanke der eingestürzten Klosterkirche hinausgingen. Die Fensteröffnungen waren mit Brettern verrammelt. Tagsüber würde Licht allenfalls durch die Ritzen in den Brettern sickern. Hier herrschte ewiges Zwielicht. Die Wände strahlten eine Kälte aus wie das Herz einer tiefen Höhle, der Geruch war der von erfrorener Stickigkeit. Im trüben Licht eines im Kamin vor sich hin kränkelnden Feuers sah Andrej Fresken an den Wänden, an denen Schimmel emporkroch, abgeplatzte Gesichter, geisterhafte Abdrücke von Gliedmaßen, halb geahnte Landschaften wie die Gespenster einer Zeit, die einmal besser gewesen war. Ihr kleiner Führer war plötzlich verschwunden.
    »Cyprian«, sagte Andrej, als dieser sich mit finsterer Miene umwandte, »lass ihn. Wir sind da.«
    Cyprian zögerte. »Ich weiß«, brummte er dann und stapfte auf den Kamin zu.
    Das Mobiliar, das sich einmal hier befunden hatte, war längst der Notwendigkeit zum Opfer gefallen, in der kalten Jahreszeit ein Feuer zu entfachen. Eine Art Thronsessel hatte jedoch überlebt; er war dem Kamin zugewandt und zeigte ihnen seinen hohen, geraden Rücken. Es musste der ehemalige Stuhl des Abtes sein; die Dominikaner waren von jeher nicht gegen die Versuchung gefeit, ihre Hierarchie mit äußeren Symbolen zu untermauern. Ein Arm erschien unvermittelt und winkte sie näher heran. Sie traten um den Stuhl herum. Andrej war auf vieles gefasst gewesen, aber nicht auf einen Menschen, der nur aus Dreck und Abfall gemacht zu sein schien.

    Das Haar des Mannes im Sessel war weiß und bildete eine mächtige, wirre Mähne, die mit seinem wuchernden Bart zusammengewachsen war. In den Falten des Gesichts war der Schmutz so tief eingegraben, dass es schien, ein irrer Künstler habe sie mit Kohle nachgezogen. Die Decke, in der er eingewickelt war, starrte vor Schmutz, und selbst im kaum vorhandenen Licht konnte Andrej sehen, dass es in ihren Falten von Leben wimmelte. Lagen um Lagen aus Essenresten, verschütteten Getränken, Speichel, Schweiß, Erbrochenem und Rotz hatten eine Art unsäglichen Panzer aus der Decke gemacht; sie sah aus, als müsse man sie auf brechen, wenn man den Insassen daraus hervorschälen wollte. Die Hand, die ihnen gewinkt hatte, zog die Decke am Hals zusammen. Die Fingernägel waren mindestens so lang wie die halben Finger, gelb, holzig, gekrümmt und scharf abgesplittert. Andrej war froh, dass er die Füße nicht sah; der Mann musste sie eingezogen haben.
    Neben dem Thronsessel stand ein Holzeimer, an dessen Seiten Eiszapfen hingen. Beim zweiten Hinsehen korrigierte Andrej sich; für Eiszapfen war es trotz der Kälte im Refektorium in unmittelbarer Nähe des Feuers zu warm. Die Zapfen waren Stalaktiten aus Urinstein und getrocknetem Kot,die zwischen den Holzdauben des Eimers hervorgedrungen und versteinert waren. Erst als er die Ratten sah, die sich bei ihrem Kommen unter den Sessel zurückgezogen hatten und jetzt furchtlos hervorkamen, um an den Zapfen zu lecken, fühlte Andrej, wie ihm sein Magen in die Kehle stieg.
    Der Mann im Thronsessel mochte hundert oder tausend Jahre alt sein; Andrej wäre bereit gewesen, beides zu glauben. Er starrte aus seiner grauenhaften Vermummung zu ihnen empor mit Augen, die so schwarz funkelten wie die der Ratten, und das mit ebenso viel Heimtücke, Furchtlosigkeit und Hass.
    »Schon wieder?«, fragte der Mann. »Wo ist der Jesuit?«
    Andrej hatte eine krächzende, pfeifende Altmännerstimme erwartet, doch die Worte waren in einem brüchigen, vollen Bass ertönt. Andrej sagte nach einem Überraschungsmoment: »Hat heute uns geschickt.«
    Das Wesen im Thronsessel schien darüber nachzudenken. »Hmmmm … und was ist noch?«
    »Es gibt weiteren Klärungsbedarf.«
    »Und da heißt es, die Jesuiten seien die schlauesten unter den Kuttenträgern.«
    Cyprian war schweigsam geblieben. Die Augen des Wesens im Thronsessel rollten in seine Richtung, und ein stummes Blickduell entwickelte sich, das erst ein Ende fand, als eine Ratte Andrej zu nahe kam und er sie mit der Stiefelspitze wegschleuderte. Die Ratte pfiff, und

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