Die Erbin Der Welt erbin1
sehen. Der Zweite Bruder tobte jedes Mal, wenn das geschah, doch der Erste Bruder lachte über seinen Zorn, und ehe das kleine Mädchen zwinkern konnte, gingen sie aufeinander los. Sie zerrten und schlugen, bis etwas passierte, und dann klammerten sie sich fest und schnappten nach Luft. Wenn das geschah, wartete das kleine Mädchen geduldig, bis sie fertig waren und wieder mit ihr spielen konnten.
Nach einiger Zeit wurde aus dem kleinen Mädchen eine Frau. Sie hatte gelernt, mit ihren beiden Brüdern zu leben, mit jedem auf seine Weise — wild tanzend mit dem Ersten Bruder und zunehmend diszipliniert an der Seite des Zweiten. Jetzt ging sie ihren eigenen Weg, jenseits der Eigenheiten ihrer Brüder. Sie war bei ihren Kämpfen dazwischengegangen, um einerseits ihre Kraft im Kampf mit ihnen zu messen und sie andererseits zu lieben, wenn aus dem Streit Freude wurde. Sie hatte, obwohl die beiden das nicht wussten, begonnen, ihre eigenen, unabhängigen EXISTENZEN zu schaffen, in denen sie manchmal so tat, als ob sie keine Brüder hätte. Dort konnte sie MÖGLICHKEIT in umwerfende neue Formen und Bedeutungen bringen, von denen sie sicher war, dass keiner ihrer Brüder diese hätte schaffen können. Im Laufe der Zeit wurde sie darin immer geschickter, und ihre Kreationen machten sie so zufrieden, dass sie begann, sie in das Reich zu bringen, in dem ihre Brüder lebten. Sie tat dies zunächst unauffällig und passte sorgfältig auf, dass sie so in die ordentlichen Räume und Anordnungen des Zweiten Bruders passten, dass er nicht beleidigt wurde.
Der Erste Bruder, wie immer von allem Neuen entzückt, drängte sie dazu, mehr zu tun. Trotzdem fand die Frau, dass sie in gewissem Maße an der Ordnung des Zweiten Bruders Gefallen gefunden hatte. Sie baute die Vorschläge des Ersten Bruders ein, aber langsam und zielgerichtet. Sie achtete darauf, wie jede winzige Veränderung weitere bewirken konnte und manchmal Wachstum auf unerwartete, wunderbare Weise hervorrief.
Manchmal zerstörten die Veränderungen alles und zwangen sie dazu, von vorne anzufangen. Sie trauerte über den Verlust ihrer
Spielzeuge, ihrer Schätze, aber sie begann den Vorgang immer von Neuem. Wie die Finsternis des Ersten Bruders und das Licht des Zweiten Bruders, war dieses Talent etwas, das nur sie beherrschte. Der Drang, dies zu tun, war so wichtig für sie, wie zu atmen — genauso ein Teil von ihr wie ihre Seele.
Der Zweite Bruder fragte sie danach, nachdem er seine Verärgerung über ihr Flickwerk überwunden hatte. »Man nennt es Leben«, sagte sie, weil ihr der Klang des Wortes gefiel. Er lächelte zufrieden, denn ein Ding zu benennen heißt, ihm Ordnung und Sinn zu verleihen. Dann verstand er, dass sie das aus Respekt vor ihm getan hatte.
Aber sie ging zu dem Ersten Bruder, als sie Hilfe mit ihrem anspruchsvollsten Experiment brauchte. Der Erste Bruder war, wie sie erwartet hatte, begierig darauf, zu helfen — aber zu ihrer Überraschung gab es auch eine nüchterne Warnung. »Wenn das gelingt, wird es vieles verändern. Das ist dir bewusst, nicht wahr? Nichts in unserem Leben wird jemals wieder wie vorher sein.« Der Erste Bruder machte eine Pause, weil er sehen wollte, ob sie ihn verstanden hatte, und plötzlich war es ihr klar. Der Zweite Bruder mochte keine Veränderung.
»Nichts kann immer gleich bleiben«, sagte sie. »Wir wurden nicht für den Stillstand erschaffen. Sogar er muss das erkennen.«
Der Erste Bruder seufzte nur und sagte nichts mehr.
Das Experiment gelang. Das neue Leben quäkte, zitterte und äußerte vehemente Proteste, aber es war wunderbar in seiner Un fertigkeit, und die Frau wusste, dass das, was sie begonnen hatte, gut und richtig war. Sie nannte das Wesen »Si'eh«, weil das der Klang des Windes war. Und sie nannte seine Art Wesen »Kind«, was bedeutete, dass es die Fähigkeit hatte, heranzuwachsen und so zu werden, wie sie waren — und dass sie noch mehr davon erschaffen konnten.
Wie immer im Leben löste diese winzige Veränderung viele, viele andere aus. Die tiefgreifendste davon war eine, die auch sie nicht vorhergesehen hatte: Sie wurden eine Familie. Eine Weile waren alle damit glücklich — sogar der Zweite Bruder.
Aber nicht alle Familien bleiben bestehen.
Einst war da Liebe.
Mehr als Liebe. Und jetzt ist da mehr als Hass. Sterbliche haben keine Worte für das, was wir Götter fühlen. Nicht einmal Götter haben dafür Worte.
Aber so eine Liebe verschwindet nicht einfach, oder? Egal, wie stark der
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