Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
„Können wir hineinkommen, Tante Freddy?“
„Jeder, der respektvoll ist, kann hereinkommen“, erklärte Freddy mit einem kurzen Blick zu ihrer Nichte.
„Nun, dann ist das entschieden“, sagte Free. „Ich denke, ich warte hier draußen, bis ihr beide fertig seid.“
„Du kannst nicht …“ Freddy presste die Lippen zusammen, und in dem Augenblick fiel Oliver auf, wie schlecht seine Tante aussah.
Ihre Haut war fahl und schlaff. Ihre Hand zitterte. Und da war noch etwas anderes an ihr, etwas, was sie dünn und gebrechlich erscheinen ließ. Sie war lediglich ein paar Jahre älter als seine Mutter, aber jeder, der die beiden Frauen nebeneinander sah, hätte angenommen, dass Freddy Jahrzehnte älter sei.
Freddy holte tief Luft. „Oliver, sag deiner Schwester, dass sie nicht draußen warten kann. Über mir wohnen jetzt Arbeiter, und der Himmel allein weiß, was sie tun würden, wenn sie sie allein dort finden. Sie sind vermutlich alle aufgewühlt von dem, was auch immer es ist, was sie heute getan haben.“ Sie sprach das Wort Arbeiter mit leiser Stimme aus, als sei es etwas Schmutziges, dann runzelte sie die Stirn. „Du warst doch nicht etwa bei dieser … Sache, oder?“ Sie schaute Free an, während sie sprach. „Nicht einmal du wärst so närrisch.“
Free warf den Kopf in den Nacken. „Wenn du mich schreien hörst, Oliver, hoffe ich, dass du zu meiner Rettung kommst. Ich weiß, Tante Freddy würde sich nicht dazu aufraffen, da ich ja vor der Tür bin, und das sind zwei Schritte zu viel von ihr verlangt.“
Freddys Augen blitzten.
„Vielleicht“, schoss Free hinterher, „werde ich sogar aus dem Haus zu dem Park ein paar Straßen weiter gehen. Da kann ich mich auf eine Bank setzen. So dunkel ist es noch nicht.“
„Free“, sagte Oliver, „schaffst du es, ein paar Augenblicke höflich sein?“
Ihre Nasenflügel bebten.
„Sie kann genauso gut auch reinkommen“, teilte ihm Freddy mit. „Ich will nicht an ihrem Tod schuld sein. Sie wird das unhöflichste Gespenst überhaupt sein, und ich weigere mich, sie in meinem Treppenhaus spuken zu lassen.“
Free musste darüber tatsächlich lächeln – als ob ihr die Vorstellung zusagte, ein höchst ungebührlicher Geist zu sein – und sie kam herein. Freddy schloss die Tür hinter ihnen und versperrte sie sorgfältig mit zwei Schlössern. Oliver setzte sich an ihren winzigen Tisch.
„Oliver“, sagte Freddy. „Es ist so schön, dich zu sehen. Hättest du gerne einen Tee?“
„Nein, danke.“
„Ich werde ein ‚Nein‘ als Antwort nicht gelten lassen. Du bist schließlich noch …“ Sie machte eine Pause. „Du bist nicht mehr im Wachstum, oder? Aber andere Leute hier könnten ja noch wachsen, und nichts eignet sich besser als Tee mit Milch, um die Gesundheit zu wahren.“ Sie blickte zu Free. „Selbst wenn manche Menschen nicht auf ihre Gesundheit achten. Und ganz eindeutig ihren Hut nicht getragen haben, egal, wie oft sie vor den Gefahren gewarnt wurden.“
„Oh ja. In meiner Zukunft wird ein Mann all meinen Besitz kontrollieren, wenn ich ihn heirate, und mir wird nicht erlaubt sein zu wählen, und mir wird auch keine Art und Weise eingeräumt werden, wie ich meinen Lebensunterhalt anders als auf meinem Rücken verdienen kann. Aber die größte Gefahr, die mir droht, sind natürlich Sommersprossen. Vielleicht könnte ich mich einfach die ganze Zeit in einen Raum verkriechen. Dann kann ich gar keine Sommersprossen bekommen. Das wird ganz wunderbar für meine Gesundheit sein.“
Freddys Lippen wurden schmal „Sag deiner Schwester, dass ich mich bewege“, verlangte sie scharf. „Ich gehe jeden Tag zwanzig Runden durch mein Zimmer. Ich bin in besserer Verfassung als sie.“
Free musterte ihre Tante von Kopf bis Fuß. Sie hatte sie vermutlich seit Weihnachten nicht mehr gesehen, und die Veränderungen waren gewiss noch dramatischer, vermutete Oliver, wenn dazwischen Monate lagen. Free notierte im Geiste wahrscheinlich die hängenden Schultern, den flach gehenden Atem und die dünnen Knochen in ihren Handgelenken.
Ihre Augen glitzerten und sie schniefte leicht. „Sag meiner Tante, dass ich froh bin, dass es um ihre Gesundheit so ausgezeichnet bestellt ist.“ Ihre Stimme bebte. „Ich kann sehen, dass sie eine gute Wahl getroffen hat.“
„Sag deiner Schwester, dass es sie nichts angeht, ob ich vorzeitig sterbe.“
Free sprang auf. Ihre Augen glitzerten. „Es geht mich nichts an, wenn du vorzeitig stirbst? Wie schwer ist es für
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