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Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Titel: Die Erbin und ihr geliebter Verraeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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waren –, hätte sie Herzklopfen bekommen. Und wenn sie wüsste, dass sie es in einer Menschenmenge taten, wäre sie in Ohnmacht gefallen.
    Als er jünger war, hatte er es einfach als gottgegebene Tatsache angesehen, dass Tante Freddy sich weigerte, die winzige Wohnung zu verlassen, die sie bewohnte. Seine Mutter hatte ihm erzählt, sie sei früher – kurz – auf den Markt gegangen. Aber selbst das hatte geendet, als sie jemanden gefunden hatte, der ihr die Lebensmittel in die Wohnung lieferte. So war es einfach gewesen , ein unveränderbarer Wesenszug Freddys.
    „Ihr hat nicht gefallen, dass ich ihr gesagt habe, sie müsse sich aus ihrer Wohnung wagen“, sagte Free. „Sie hat von mir verlangt, dass ich mich entschuldige. Daher habe ich ihr gesagt, dass ich meine übereilten Worte bereuen würde und dass ich eigentlich hatte sagen wollen, dass sie jeden Tag vor die Tür gehen müsse.“
    „Oh“, machte Oliver wieder und schüttelte den Kopf. „Du weißt schon, dass unsere Tante der eine Mensch auf der Welt ist, der zu stur ist, um sich von dir herumkommandieren zu lassen?“
    Free zuckte die Achseln. „Sie hat mir mitgeteilt, ich sei ein freches kleines Gör, und daher habe ich ihr gesagt, wenn sie uns Vorträge darüber halten dürfe, wie wir unser Leben leben sollen, ich ihr Vorträge darüber halten würde, was sie tun müsse. Dass ich, wenn sie naserümpfend erklären könne ‚Es ist nur zu deinem Besten‘, das gleiche Recht für mich in Anspruch nehmen würde.“
    Oliver seufzte. „Free“, sagte er leise. „Ich verstehe wirklich nicht, was Tante Freddy hat. Aber ich glaube tatsächlich, dass sie die Wohnung nicht verlassen kann . Wenn sie das könnte, hätte sie es schon vor Jahren getan. Drei Jahrzehnte in einem winzigen Zimmer eingepfercht zu verbringen ist schließlich nichts, was man aus einer Laune heraus tut.“
    Free wirkte noch rebellischer. „Vielleicht kann sie es und vielleicht auch nicht, aber sie sollte es. Und selbst wenn du recht hast, warum kann sie das dann nicht einfach sagen? Stattdessen weigert sie sich, darüber zu reden – und reitet stattdessen auf meinen Unzulänglichkeiten herum. Es ist ungerecht, dass sie mir sagen kann, dass ich Zitronensaft benutzen müsse, um gegen meine Sommersprossen vorzugehen, aber ich ihr nicht mal sagen kann, sie müsse an die frische Luft.“
    Oliver schüttelte den Kopf, als sie zu dem Gebäude kamen, in dem ihre Tante wohnte. „Du hast recht“, sagte er. „Es ist ungerecht. Ich denke aber, es ist noch ungerechter, dass Freddy nicht nach draußen kann. Hab ein wenig Mitleid mit unserer Tante, Free. Da wir jetzt hier sind, wäre es vielleicht eine gute Gelegenheit, sich zu entschuldigen.“
    „Warum sollte ich mich entschuldigen? Ich habe nichts falsch gemacht.“
    Oliver seufzte erneut. „Dann komm mit hoch und sag nichts. Das wird euch beiden Spaß machen.“
    Oliver steckte einem Blumenmädchen an der Straßenecke ein paar Münzen für einen Blumenstrauß zu, und gemeinsam gingen sie die Treppe hoch. Auf einem der Absätze war ein wenig Unrat – mehrere Wochen alt, wie es aussah. Oliver nahm sich vor, ein weiteres Mal mit dem Hausbesitzer zu sprechen. Wenn seine Tante schon ihre ganze Zeit hier verbrachte, sollte alles so schön wie möglich sein.
    Er klopfte an die Tür und wartete.
    „Wer ist da?“ Freddies Stimme klang etwas zittriger, als Oliver sie in Erinnerung hatte.
    „Hier ist Oliver.“
    Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und er erhaschte einen flüchtigen Blick auf seine Tante, die hindurch spähte. „Bist du allein?“, wollte sie wissen. „Ist die Stadt in Flammen aufgegangen? Gibt es Unruhen?“
    „Nein“, antwortete Oliver. „Die Demonstration ist ganz ruhig verlaufen.“
    Sie öffnete die Tür weiter. „Dann komm rein. Es ist so gut, dich zu sehen, mein Lieber.“ Sie begann ihn hereinzuwinken. Aber dann fiel ihr Blick auf Free, die dicht hinter Oliver stand.
    Eine Sekunde lang verwandelte sich Freddys Gesicht. Die Brauen hoben sich, und ihre Augen leuchteten auf. Sie schluckte, und ihre Hand zuckte unwillkürlich zu Free, aber dann verlief die ganze Entwicklung wieder rückwärts – Freude wich sturer Ablehnung.
    Gestritten, ja? Sie waren zwei der dickköpfigsten Frauen, die er kannte – möglicherweise, weil sie einander so gern hatten, was sicherlich auch dafür verantwortlich war, dass sie seit Jahren stritten, obwohl sie einander so unübersehbar lieb hatten. Oliver schüttelte den Kopf.

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