Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
heißt Oliver Marshall. Er wird vermutlich nicht gehen, bevor nicht alles vorbei ist. Wo soll er stehen und alles mit finsterer Miene verfolgen?“
„Sie dürfen die Außengrenze keinesfalls überschreiten“, teilte ihm eine Frau mit. „Nur Frauen werden innerhalb des Kreises geduldet, und ich hoffe, Sie können verstehen, warum das so ist. Aber mein eigener Bruder ist dort drüben. Er lehnt an dem Baum da und passt auf, falls irgendetwas schiefzugehen droht. Wenn Sie mögen, können Sie sich gerne zu ihm stellen.“
Oliver schüttelte über seine Schwester den Kopf, und sie grinste ihn an. „Hab Spaß, Oliver. Die Reformliga hat Miss Higgins versprochen, ihr die Gelegenheit zu geben, eine Rede zu halten. Ich bin sicher, du wirst lieben, was sie zu sagen hat.“
N ACH DER D EMONSTRATION gab es nicht viel zu sagen. Die Konstabler schritten nur insofern ein, als sie den Leuten nahelegten, vor Einbruch der Dunkelheit den Park zu räumen, und zu dem Zeitpunkt schien auch niemand dagegen etwas einzuwenden zu haben.
Die Stimmung war überschäumend. Die Regierung hatte angekündigt, mit aller zur Verfügung stehenden Macht gegen die Demonstration vorzugehen. Das Volk wiederum hatte angekündigt, gegen das Vorgehen gegen die Demonstration vorzugehen.
Das Volk, so war die allgemeine Meinung, hatte gewonnen. Und zwar entschieden.
Frees Freundinnen vertrauten sie nur zögernd Olivers Obhut an. Die Droschken waren dem Ansturm nicht gewachsen, die Straßen hoffnungslos mit Fußgängern verstopft. Es war ausgeschlossen, mit der Kutsche zu fahren.
Daher gingen sie zu Fuß. Die ersten fünfzehn Minuten war Free fröhlich, erzählte von den vielen Menschen, wie die Stimmung gewesen war und wie viel Spaß sie gehabt hatte, wie sie es nicht erwarten konnte, es erneut zu tun. Ihre ganze Energie vermittelte ihm das Gefühl, alt und müde zu sein.
„Wohin bringst du mich?“, fragte Free schließlich, nachdem sie durch eine Handvoll enger Gassen gekommen waren. „Es sieht so aus, als gingen wir zu Freddy.“
Oliver blinzelte und drehte sich zu seiner Schwester um. „Ich dachte, du magst Tante Freddy. Du schreibst ihr jede Woche. Du bist nach ihr benannt.“
Free verdrehte die Augen. „In den vergangenen vier Jahren, Oliver, habe ich ihr nur wütende Briefe geschrieben, und sie hat sie mindestens ebenso giftig beantwortet. Du passt nie auf. Wir streiten uns.“
War es wirklich vier Jahre her, seit er längere Zeit zu Hause verbracht hatte? Oliver zählte nach und … und schluckte.
„Du streitest mit allen“, sagte er schließlich. „Ich habe nicht darauf geachtet.“
„Sie wird mir Vorträge halten. Weißt du, was Freddy sagen wird, wenn du ihr erzählst, was ich hier getan habe?“ Frees Augen wurden schmal. „Ist das der Grund, warum du mich zu ihr bringst? Weil du willst, dass sie mir …“
„Ehrlich, Free.“ Oliver sandte einen Blick gen Himmel. „Ich wollte dich zu Freddy bringen, weil ich dachte, du würdest sie gerne sehen. Ich kann dich genauso gut nach Clermont House mitnehmen, wenn dir das lieber ist, aber das letzte Mal, als du dort warst, hast du dich beschwert, du würdest niemanden kennen und hättest nichts zu tun. An Freddys Gardinenpredigten habe ich gar nicht gedacht, aber wenn ich das getan hätte, wäre ich nicht mit dir hergekommen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber sobald mir Tante Freddy sagt, ich dürfe etwas Bestimmtes nicht tun, ertappe ich mich bei dem heftigen Wunsch, genau das tun zu wollen.“
Frees Lippen zuckten wider Willen belustigt.
„Und dir hat sie ja auch nie Vorträge gehalten. Nicht so wie uns anderen.“
Free seufzte. „Das hat sich geändert. Ich hab dir ja gesagt, wir streiten uns. Letzte Weihnachten haben wir damit verbracht, jeweils laut über die andere zu sprechen, damit es alle hören. Wie kannst du davon nichts bemerkt haben?“
Tante Freddy war so widerborstig, dass es schwer zu sagen war, wann sie sich wirklich aufregte und wann sie nur viel Lärm um Nichts machte, um irgendeinen albernen Standpunkt zu vertreten. Sie hatte schon so lange, wie Oliver sie kannte, düsterte Prophezeiungen ausgestoßen. Und keine Einzige war je eingetreten.
„Worüber habt ihr denn gestritten?“, erkundigte Oliver sich. „Oder will ich das lieber nicht wissen?“
„Sie muss rausgehen, unter Leute kommen.“
Oliver holte tief Luft. „Oh.“
Wenn Freddy wüsste, was sie jetzt taten – dass sie auf einer ganz normalen Straße in der Stadt zu Fuß unterwegs
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