Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
du nur Bemerkungen über das Fischen und erwartest, dass ich von allein auf alles komme.“
Sein Vater lachte auf. „Das überrascht dich? Den Trick habe ich dir doch schon vor Jahren beigebracht. Wenn du den Mund hältst, schreiben dir die Leute ganz von allein ihre klügsten Ideen zu.“
Nach weiteren vierzig Minuten Schweigen, in denen es ihnen gelungen war, eine vier Zoll große Forelle zu fangen, die kommentarlos zurück ins Wasser geworfen wurde, ergriff Oliver wieder das Wort.
„Wenn ich nicht hier bin, angelst du dann allein?“
„Meistens kommt Free mit.“
„Ich wollte sie nicht verdrängen. Ist sie böse auf mich? Sie hat gestern Abend kein Wort zu mir besagt, bevor sie sich mit ihrem Buch zurückgezogen hat.“
Sein Vater beäugte kritisch die künstliche Fliege am Ende seiner Angelschnur und bog sie wieder zurecht, nachdem der Fisch sie übel zugerichtet hatte. „Du hast sie nicht vertrieben“, antwortete er gleichmütig. „Ich habe sie gefragt, ob sie mitkommen wollte, aber sie hat abgelehnt.“
„Also ist sie böse auf mich. Ich frage mich, was ich getan habe.“
„Frag sie“, erwiderte sein Vater ruhig. „Ich bin sicher, sie wird es dir verraten.“
Oliver hegte daran keinen Zweifel. Free gehörte nicht zu den Menschen, die irgendetwas zurückhielten.
„Ich mache mir ihretwegen Sorgen“, bemerkte sein Vater schließlich. „Ich habe nie begriffen, wie unkompliziert Laura und Patricia waren. Sie wollten normale Sachen. Sicherheit, heiraten und eine Familie gründen. Natürlich wollten sie mehr als das. Aber Free … Ich habe nicht geahnt, dass deine Mutter und ich all unseren Ehrgeiz konzentriert an ein Kind vererben würden.“
„Was ist es, das Free sich wünscht?“, fragte Oliver leicht verwundert.
Sein Vater lächelte trocken. „Was will sie nicht? Ich habe dich immer für ehrgeizig gehalten, Oliver. Aber du bist nichts gegen deine jüngste Schwester.“
A UF DEM H EIMWEG sah Oliver seine Schwester auf sie warten. Sie stand auf dem Hügel am Bach. Sie hatte die Arme verschränkt, und ihr Haar war nicht aufgesteckt. Es wehte hinter ihr, ein leuchtendes Banner in Orange, dieselbe Farbe wie sein eigenes, kurz gestutztes Haar.
Er blieb ein Stück vor ihr stehen, während sein Vater weiterging und die beiden alleinließ. „Free.“
Sie antwortete nicht, sondern reckte das Kinn. Ja, sie war eindeutig böse auf ihn.
Sie war nicht leicht reizbar oder jähzornig, wie die Leute es meist von einer Frau mit ihrer Haarfarbe erwarteten, sondern geduldig und freundlich. Aber sie konnte auch stur und unbelehrbar sein.
„Free“, sagte er noch einmal. „Wie geht es dir? Wolltest du mit mir reden?“
Sie schaute ihn nicht an. „Warum sollte ich?“ Sie blinzelte nicht. „Du hast dein Versprechen nicht gehalten, also warum sollte ich mit dir reden wollen?“
„Versprechen?“ Er starrte sie verwirrt an. „Habe ich dir irgendetwas versprochen?“
Jetzt endlich drehte sie sich zu ihm um. „Natürlich hast du das. Du hast versprochen, mit mir Griechisch zu sprechen. Mama kann kein Griechisch, daher kann sie das nicht tun, aber du bist in Eton gewesen.“
„Das habe ich versprochen?“
„Schon vor über einem Jahr, an Weihnachten“, sagte sie und unterstrich das mit einem nachdrücklichen Kopfnicken.
Vage erinnerte er sich, spät abends mit seiner Schwester vor dem Kamin gesessen und in der Zeitung gelesen zu haben, ihr immer wieder Teile gegeben und von ihr welche erhalten zu haben.
„Ich kann einiges aus Büchern lernen“, sagte sie gerade, „aber ich muss üben. Dazu brauche ich dich.“
„Wenn ich mich recht entsinne“, erwiderte Oliver, „habe ich versprochen, ich würde dir dabei helfen, sobald ich die Zeit dazu hätte. In dem Jahr, das seitdem vergangen ist, habe ich …“
„Du hast Monate mit dem Herzog zusammen verbracht.“ Sie verschränkte vorwurfsvoll die Arme.
„Das war etwas anderes. Ich habe mit Männern in London über die Wahlrechtsreform gesprochen. Das ist der Grund, weshalb ich keine Zeit hatte. Wenn das hier alles fertig ist, dann werde ich …“
Ihr Kinn reckte sich noch ein Stück. „Wenn das alles fertig ist? Wie lange wird das dauern, Oliver?“
„Das kann ich dir wirklich nicht sagen.“
Sie schürzte die Lippen. „Es hat nach der letzten Reform mehr als drei Jahrzehnte gedauert, bis die Sache wieder ernsthaft im Parlament in Erwägung gezogen wurde. Der Gesetzesvorschlag letztes Jahr wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Es
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