Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
Wärme. Er stieß einen Laut aus, nicht wirklich ein Protest, aber unterbrach den Kontakt nicht.
„Vergessen Sie nicht“, sagte er schließlich, „was ich in Erwägung ziehe. Ich glaube nicht, dass ich Sie noch leichter verwundbar für mich machen sollte. Ganz gewiss nicht.“
„Dafür ist es zu spät“, teilte sie ihm mit.
Er zog seine Hand weg, als würde das etwas ändern. Es war egal. Er war unter all die Lagen Spitze gedrungen, die sie benutzt hatte, um ihr Herz darin einzuhüllen. Sie war nicht so dumm, sich in ihn zu verlieben, dafür war selbst sie nicht mutig genug. Aber …
„Sie sind der aufrichtigste Verräter, den ich je hatte“, erklärte sie.
Er verzog das Gesicht. „Kommen Sie, Miss Fairfield“, sagte er schließlich. „Es wird kalt, und wir sollten wieder ins Haus gehen.“
Kapitel 8
„ S EIT ÜBER ZWEI W OCHEN in Cambridge“, sagte der Mann, den Oliver sein Leben lang Vater genannt hatte, von seinem Platz oberhalb des Baches. „Und du kommst erst jetzt zu Besuch?“ Er schaute Oliver nicht an, während er das sagte, sondern begutachtete den Köder am Ende seiner Angelschnur.
Es war Nachmittag – die schlechteste Zeit zum Angeln – und zudem Januar. Aber sein Vater hatte keine Einwände erhoben, als Oliver den Ausflug an den Bach vorgeschlagen hatte.
Hugo Marshall war ein gutes Stück kleiner als Oliver. Sein Haar war von einem unordentlichen Braun, seine Züge kantig, die Nase wenigstens einmal gebrochen. Er sah völlig anders aus als Oliver, und das hatte einen guten Grund: Hugo Marshall war nicht Olivers leiblicher Vater. Allerdings war er es sonst in jeder Beziehung, die zählte.
Oliver gab sich Mühe, seinen Vater nicht anzusehen. Sie hatten sich unweit des natürlichen Beckens hingestellt, an dem sie immer angelten und wo das Wasser nur langsam floss. Ein großer grauer Fels am Ufer eignete sich ausgezeichnet als Sitzgelegenheit. „Ich hätte in der Tat früher kommen sollen.“
Der Hof seiner Eltern lag gleich außerhalb des kleinen Dorfes New Shaling und war per Pferd nur eine gute Dreiviertelstunde von Cambridge entfernt. Während er die Universität besucht hatte, war er, wenn möglich, an jedem Wochenende hergekommen.
„Free denkt, du würdest ihr aus dem Weg gehen“, sagte sein Vater.
Das passte zu ihr. Seine jüngere Schwester hatte schon immer Temperament besessen. Und die Tendenz zu glauben, dass die Welt sich nur um sie drehte. Da es oft genug den Anschein hatte, als sei es wirklich so, hatte sie bisher wenig in diesem Glauben beirrt.
„Das tue ich mitnichten“, erwiderte Oliver. „Ich bin dir aus dem Weg gegangen.“
Sein Vater lachte netterweise.
Oliver hingegen nicht. Stattdessen beschäftigte er sich angelegentlich mit Angelrute und Schnur.
„Verstehe“, bemerkte sein Vater nach einem Moment. „Was habe ich Furchtbares getan?“
Oliver warf seine Schnur mit Schwung ins Wasser, beobachtete, wie kleine Wellen die sonst glatte Oberfläche kräuselten. „Du nichts, aber ich.“
Sein Vater erwiderte nichts.
„Ich befinde mich in einer moralischen Zwickmühle.“
„Ah.“ Hugo Marshalls Blick richtete sich in die Ferne. „Ist es eine tatsächlich schwierige moralische Frage, oder ist es eine, wo die richtige Entscheidung auf der Hand liegt, die falsche aber zu verlockend ist?“
Man konnte sich darauf verlassen, dass sein Vater den wunden Punkt fand, ohne mehr gehört zu haben. Oliver untersuchte seine Angel, schaute nicht auf. Gewöhnlich hätte er seinem Vater alles gebeichtet. Aber dieses Mal … dieses Mal war er nicht sicher, ob er ihm die Geschichte erzählen wollte. Zu viel davon hatte mit Hugo Marshall zu tun.
Seine Eltern hatten gespart und Opfer gebracht, jeden Pfennig zusammengekratzt, damit Oliver die Chance erhielt, die er bekommen hatte. Er begann gerade erst zu begreifen, was seine Eltern für ihn aufgegeben hatten.
Als Olivers Bruder, der Herzog, volljährig wurde, hatte Oliver zum ersten Mal Clermont House besucht. Er hatte vage gewusst, dass sein Vater irgendwie für den Duke of Clermont gearbeitet hatte, aber er hatte nie die Einzelheiten erfahren.
Erst als er einundzwanzig wurde. Erst als er zusammen mit seinem Bruder nach London kam und ihm die Dienerschaft vorgestellt wurde. Gut die Hälfte der Leute waren schon seit mehr als zweiundzwanzig Jahren im Haushalt beschäftigt, hatten also Hugo Marshall gekannt. Sie waren sehr neugierig auf Oliver gewesen … und noch neugieriger, was aus Hugo Marshall geworden
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