Die Erbin
Stimme.
Lobow saß erstarrt und spielte vollendet den Sprachlosen. Endlich wischte er sich mit zitternden Händen über die Augen. »Was ist denn los, Liebling?« stotterte er. »Warum wirfst du das Radio weg?«
»Diese Stimme!« Ihr Gesicht war wie versteinert. Die Lippen waren nur noch ein Strich. Die Augen glühten. Das Bikinioberteil, das sie nur lose übergelegt hatte, war in den Sand gefallen. Lobow sah sie von unten her an. Man kann sich an sie gewöhnen, dachte er. Schönheit allein macht eine Frau nicht aus.
»Eine Oper«, sagte er, noch immer den Ahnungslosen spielend.
»›Norma‹ von Bellini!«
»Ich weiß nicht. Möglich. Aber es war doch schön …«
»Die Palvietti hat gesungen!«
»Ich weiß nicht. Ich kenne mich da nicht aus. Sag mal, erkennst du so auf Anhieb eine Stimme? Alle Achtung! Du bist ein Opernfan?«
»Diese Stimme erkenne ich noch im Tode!« Sie warf die Beine herum und beugte sich mit ihren nackten Brüsten zu ihm. Das ist unmöglich, schien sie zu denken. Er sollte nichts wissen von meinem Vater und dieser Sängerin? Das gibt es doch nicht. Fast zehn Jahre lang waren sie der Gesprächsstoff der Welt. Zehn Jahre lang litt ich darunter. Und dann kam die andere, die große Nany Johnes, und der Skandal wurde noch größer und ich noch einsamer. Er sollte das alles nicht wissen?
»Warum hast du dieses Band mit der Palvietti gekauft?« fragte sie heiser.
»Weil es mir gefiel. Eine große Stimme …« Er blickte hinüber zu den Steinen, hinter die der Radioapparat gefallen war und von wo noch schwach die Arie der Norma tönte. »Schade, daß sie nicht mehr singt …«
»Ich wünsche ihr ein Leben ohne Kehlkopf!« sagte Lyda.
»Na, na! Warum denn das?«
»Da kannst du noch fragen?«
»Vielleicht siehst du das als Opernkennerin anders. Für mich singt sie sehr gut! Was mißfällt dir an der Stimme?« Das alles klang so harmlos, daß Lyda nicht wußte, wie sie sich verhalten sollte. Zum erstenmal in ihrem Leben begegnete sie einem Menschen, der nichts von Stavros Penopoulos und Irena Palvietti wußte. Das war so unbegreiflich, daß selbst ihr wilder Zorn in sich zusammenfiel.
»Wo kommst du her?« fragte sie und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Vom Mond?«
»Aus Rußland!« Lobow lachte leise, etwas bedrückt. »Manche Leute verwechseln das mit dem Mond.«
»Du kennst die Palvietti nicht?«
»Nur die Stimme.«
»Und die Jahre 1959 bis 1968?«
»O Liebling, da war ich ein kleiner Beamter in Ausbildung und konnte mir nicht einmal im Sommer täglich ein Eis leisten, geschweige eine Platte von der Palvietti.«
»Ich meine keine Platten. Du hast nie gehört, daß mein Vater …?«
»Hat er ein Konzert mit der Palvietti geben lassen?« fragte Lobow.
»Das ist ja nicht zu fassen!« Lyda sank auf ihren Liegestuhl zurück und bedeckte mit beiden Händen ihre Brüste, als schämte sie sich plötzlich. Mit weiten Augen starrte sie gegen die Unterseite des Strohschirmes.
»Ich war damals neun Jahre alt«, sagte sie. »Wir lebten in New York, Mama und ich. Papa war wie immer ständig unterwegs. London, Paris, Athen, Rom, Monte Carlo oder kreuz und quer mit der Jacht im Mittelmeer. Da kamen die ersten Fotos: ›Irena Palvietti und Stavros Penopoulos auf der Jacht bei einer Fahrt ins Glück.‹ Mama und ich haben darüber gelacht. Papa und eine Opernsängerin! Papa hat sich nie etwas aus Opern gemacht. Er besuchte zwar die Opern in Paris und in Rom, auch die Metropolitan in New York, aber es war für ihn eine Qual. Er ging nur hin, weil es zum guten Ton gehörte, sich sehen zu lassen. Puccini war ihm zu süß und verlogen, Wagner zu laut, Mozart zu verspielt, Verdi zu blutrünstig, Strauß zu füllig, und alles, was da auf der Bühne sang und starb, war ihm viel zu unwirklich. Papa war Realist. Er ließ sich nie durch Kunst, durch Oper, Konzert oder Theater verwirren. Natürlich liebte er schöne Bilder; er ließ unsere Jacht von einem berühmten Maler ausmalen, er hängte sogar echte Impressionisten in die Kabinen, aber nicht weil sie ihm ans Herz gewachsen, sondern weil sie berühmt und teuer waren. Und plötzlich sollte er die Oper entdeckt haben? Wir haben gelacht, Mama und ich! Aber dann verging uns das Lachen. Es wurde dunkel in unserer Familie …«
Sie atmete tief und legte beide Hände über ihr Gesicht. Die Erinnerung trug sie weg. Ein Zittern lief durch ihren Körper. Lobow betrachtete sie mit einem fast wissenschaftlichen Blick.
»Reg dich nicht auf«, sagte er
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